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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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in Ankara beschlossenen Gesetze nicht das Papier wert sind , au f dem sie gedruckt werden . Die Frauenorganisation Ka-mer , vor mehr als zehn Jahren im Osten Anatoliens gegründet , hilft Frauen , deren Leben durch »Ehrenmord« bedroht ist . Dass jede Frau das individu elle Recht au f Leben , au f körperliche Unversehrtheit – auch gegen über der eigenen Familie – hat , ist den Frauen meist unbekannt . »Sie kennen ihre Rechte gar nicht , oft hören sie durch uns zum ersten Mal davon« , sagten mir nahezu alle bei Ka-mer arbeitenden Frauen , die sich aufgemacht haben , daran etwas zu ändern .
    »Wir sind leicht zu finden«, sagt die nette Dame am Telefon, und tatsächlich: Die Zentrale von Ka-mer in Diyarbakir ist nicht versteckt, sondern im dritten Stock eines Wohnhauses in einem bürgerlichen Viertel der Stadt beheimatet. Nur die doppelt gesicherte Eingangstür aus Stahl unterscheidet sie von den Nachbarwohnungen. Diese Tür rettete schon vielen Frauen das Leben.
    Emine, die früher Beamtin war, arbeitet hier seit acht Jahren. 1997 haben zwölf Frauen Ka-mer in Diyarbakir gegründet. Mittlerweile hat die Organisation fünfzig Festangestellte und viele Helferinnen. Seit 2003 konnte Ka-mer auch in anderen Städten im Osten und Südosten Anatoliens Beratungsbüros einrichten. Gefördert werden diese fast ausschließlich durch Projekte der Europäischen Union, die diese Mittel vergibt, um die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Durchsetzung der Menschenrechte zu fördern – eine der Voraussetzungen für einen EU-Beitritt.

Archaische Gesetze
    Hauptaufgabe von Ka-mer ist die Bekämpfung der sogenannten Töre-cinayeti , der Ehrenmorde. Je nach Ethnie und Stamm gibt es unterschiedliche Traditionen des Ehrenmordes. Bei den im Südosten Anatoliens vorherrschenden Kurden-Stämmen gilt das archaische Gesetz, dass der Ältestenrat den Tod des Mädchens beschließt und auch den Mörder bestimmt. »Liegt so ein Fall vor«, sagt Emine, »können wir mithilfe der Polizei die Frau außerhalb der Stadt unterbringen. Doch wir fragen zuerst die Frau selbst, welche Art von Hilfe sie benötigt. Wir bieten ihr an, mit einem Familienmitglied zu sprechen, zu dem sie Vertrauen hat, und setzen dann auf ihn als Schlichter. In vielen Fällen war diese Vorgehensweise schon erfolgreich. Wir versuchen auch, Kontakt zum Familienrat aufzunehmen, an den Beratungen der Familie teilzunehmen und sie von ihrem Beschluss abzubringen. Das kann manchmal tagelang dauern. Bleibt die Familie bei ihrem Beschluss, das Mädchen zu töten, muss es auch in diesem Fall selbst entscheiden, ob es sich dem Urteil fügen oder unsere Hilfe in Anspruch nehmen will, um unterzutauchen.
    Wird der Mordbeschluss rückgängig gemacht, kann sie wieder in die Familie aufgenommen werden. Sie wird dann allerdings meistens sofort zwangsverheiratet. Wie ihr Leben dann aussieht, wissen wir nicht. Aber alles ist besser als der Tod – das ist unsere Grundüberzeugung. Wir versuchen nie, für die Frau zu entscheiden. Sie muss von Anfang an lernen, selbst die Verantwortung zu übernehmen. Und wir versuchen, die Männer zu überzeugen. Würden wir es anders machen, hätten wir die Männer längst hier. Und das wäre lebensgefährlich.
    Frauen, die vor ihrer Familie fliehen, können wir nur einige Wochen anonym unterbringen. Danach schicken wir sie, wenn möglich, zu ihren Verwandten zurück, oder sie kommt mit einer neuen Identität irgendwo in der Türkei unter. Das geht alles nur mithilfe der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Die Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen funktioniert inzwischen gut. Wir konnten sie von der Notwendigkeit gemeinsamen Vorgehens überzeugen. Das war schwer, aber die Unterstützung aus dem Ausland hat uns dabei geholfen. Wir wollen, dass der Staat sichverantwortlich für die Frauen fühlt. Wir selbst können nicht für ihre Sicherheit sorgen, das ist viel zu gefährlich für alle Beteiligten. Denn die Frauen, die sich bei uns melden, sind meistens in akuter Lebensgefahr. Gestern zum Beispiel haben wir gleich drei Frauen ins Frauenhaus bringen müssen, weil gegen sie ein Mordbeschluss vorlag. Es ist unser Alltag – jeden Tag bekommen wir bis zu fünf solcher Hilferufe.«
    Der Erfolg von Ka-mer hat vor allem damit zu tun, dass sich die Frauen selbst organisieren. Von Anfang an haben sie es verstanden, die regionale und nationale Politik in die Verantwortung zu nehmen, internationale Unterstützung und Aufmerksamkeit zu organisieren und

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