Bittersüße Heimat.
wurde verhaftet. Als dessen Familie dann doch Zahlungsbereitschaft signalisierte, »überzeugten« Aishes Eltern ihre »unrein« gewordene Tochter, ihren Vergewaltiger zu heiraten.
Oder die junge Behir, die sich freiwillig »entführen« ließ, ohne die Einwilligung ihrer Eltern heiratete und jahrelang Gewalt ertrug. Nach Hause konnte sie nicht zurückkehren, ihr Vater hatte ihr die Entführung nicht »verziehen«. Trotzdem verließ Behir ihren Mann und lebte auf der Straße, bis sie von einer Familie aufgenommen wurde, die sie mit einem älteren Mann verheiratete. Aber auch der begann sie zu schlagen: »Wenn du eine gute Frau wärst, hättest du deinen ersten Mann nicht verlassen und wärst nicht auf der Straße gelandet. Du bist unrein, alles, was du anfasst, wird schmutzig.« Und wieder floh sie, die Familie ihrer Schwester nahm sie auf. Als der Vater dies erfuhr, wurden sie von ihm und ihrem Abi fast zu Tode geprügelt. Behir wurde eingesperrt, die Männer der Familie hatten ihren Tod beschlossen. Ein Nachbar verhalf ihr zur Flucht. Und sie kam zu Ka-mer.
Oder Yasemin, die die Oberschule abgeschlossen und den Mann geheiratet hatte, den sie liebte – gegen den Willen ihres Vaters. Wenn sie vor den Schlägen ihres Mannes zu ihren Eltern flüchtete,brachte ihr Vater sie regelmäßig wieder zurück: »Du hast es so gewollt und nicht auf mich gehört. Nun musst du den Preis für deinen Ungehorsam bezahlen.« Da ihre Familie sie nicht beschützte, wurde Yasemins Mann immer brutaler. Eines Tages setzte er sie unter Drogen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, lag ein Freund ihres Mannes neben ihr. »Ich habe eine Schlange an meiner Brust genährt«, beschuldigte ihr Ehemann sie. »Aber wenn du willst, kann ich dir mehr Männer bringen.« Seinen Schwiegereltern erzählte er von dem angeblichen Ehebruch ihrer Tochter. Gemeinsam beschlossen die Männer beider Familien Yasemins Tod. Ihre Mutter half ihr, zu Ka-mer zu flüchten.
Die zwanzigjährige Inci wurde in eine Berdel – Ehe gezwungen. Sie wurde mit einem Bruder ihrer Schwägerin verheiratet, sie war der »Ersatz« für den Brautpreis, den ihre Familie für ihren Sohn nicht zahlen konnte. Dann behilft »Mann« sich mit der Schwester. Einem Bruder der zukünftigen Braut wird dann eine Tochter des Hauses zur Frau gegeben – eine besondere Art des Naturalientauschs. In der kurdischen Tradition nennt man diese Art der Über-Kreuz-Verheiratung » berdel « – es ist aber eher eine Art Geiselnahme. Denn die beiden Paare sind unauflöslich vertraglich aneinander gebunden. Scheitert eine Ehe, wird das andere Paar zur Rechenschaft gezogen. Incis Mann schlug und vernachlässigte sie. Sie flüchtete mit ihren Kindern zu Ka-mer.
Sila wurde von der Familie des Bräutigams wieder zurückgeschickt – mit der Begründung, sie sei keine Jungfrau mehr. Als sie ihrem Schwiegervater beichtete, dass sie vergewaltigt worden war, und ihm den Namen des Täters nannte, entführte der Schwiegervater dessen dreizehnjährige Schwester, verschleppte sie in die Berge und missbrauchte das Mädchen. Eine Woche später brachte er das Kind zurück.
Über diese und alle anderen Fälle haben die Ka-mer-Frauen ein Verlaufsprotokoll angefertigt, unzählige ähnliche Dramen werden nie bekannt. Die Geschichte dieser fünf Frauen fand ein »gutes« Ende – wenngleich das, um Emines Worte aufzugreifen, oft nur bedeutet: Es war »besser als der Tod«.
Die Arbeit von Ka-mer hat dazu geführt, dass sich das türkische Parlament mit dem Problem befasste, eine Kommission einrichtete und Ministerpräsident Erdogan 2006 einen Runderlassan alle Provinzgouverneure verschickte, in dem er sie aufforderte, dem »Phänomen« der Ehrenmorde besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Denn nachdem im April 2005 bei der Reform des türkischen Strafgesetzbuches das Strafmaß für sogenannte Ehrenmorde erheblich angehoben worden war, stieg die Selbstmordrate unter jungen Frauen auffällig an. Die Vermutung liegt nahe, dass Ehrenmorde nun als Selbstmorde getarnt werden, damit die Familie strafrechtlich nicht belangt werden kann.
In der Stadt der Selbstmörderinnen
Den traurigen Rekord in der Statistik der »Selbstmörderinnen« hält die ostanatolische Stadt Batman, die nächste Station unserer Reise. Von diesem Ort habe ich die schrecklichsten Dinge gehört: Fast 200 Menschen, vornehmlich junge Frauen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren – laut Aytekin Sir das »gefährlichste Alter« –, sollen sich hier mit
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