Bittersüße Heimat.
Erholungsheime, Parks aus der Atatürkzeit werden nach Geschlechtern getrennt; Alkoholausschank ist in allen städtischen Einrichtungen verboten; seit Erdogan Bürgermeister war, wurden am Strand Frauenabteilungen eingerichtet.
In Florya, einem der schönsten Istanbuler Badeorte, nehme ich an einem Hochzeitsessen teil. Der Ort, noch in den 1960er Jahren ein Sinnbild für die neue Bürgerlichkeit und das moderne Leben, hat sich verändert. Die großbürgerlichen Villen von damals stehen zwar noch, aber die staatlichen Erholungsheime am Wasser sind von AKP – Aktivisten übernommen worden. Demonstrativ flanieren die Islamisten an den Villen vorbei, als wollten sie den Bewohnern signalisieren: Bald werden wir hier einziehen. Mitten während des Hochzeitsessens stehen plötzlich, als der Muezzin der nahen Moschee ruft, alle gläubigen Mitglieder der Familie auf und ziehen sich in getrennte Räume zum Beten zurück. Abends findet die Feier nach Geschlechtern getrennt statt. Als ein junger, technisch versierter Mann ins Frauenzelt gerufen wird, um die Musikanlage zu reparieren, legen die meisten Frauen ein Kopftuch an, um ihr Haar darunter zu verbergen. Nur eine Frau bleibt gelassen sitzen. »Ich trage eine Perücke«, erklärt sie auf meine verwunderte Nachfrage.
Der Vater der Braut ist ein Kleinfabrikant. Seine Firma hat er mithilfe der IK B (Islam Kalkinma Bankasi) gegründet, einer islamischen Bank, die Kredite nur an bekennende Muslime vergibt. Ein Unternehmer aus der Bekleidungsindustrie erzählt mir von einem Unternehmerverband, dem »Islam Özel Sektör Destekleme Kurumu«, der mit Unterstützung der AK P eingerichtet wurde und inzwischen mit jährlich elf Millionen Dollar vom türkischen Staat gefördert wird, um einen eigenen Wirtschaftskreislauf der Islamisten aufzubauen. Die in diesem Verband zusammengeschlossenen Unternehmen finanzieren sich mithilfe eigener Banken, produzie ren Kleidung für den religiös fundierten Markt, verkaufen ihre Ware in helal – Läden, sogenannten reinen Läden, und stellen nur Strenggläubige ein, deren Arbeitszeiten an den Gebetsrhythmen ausgerichtet sind. Die republikanische CH P läuft Sturm dagegen, bezeichnet diese Praxis als Einführung der Scharia am Arbeitsplatz. Aber die AK P hat die Mehrheit im Parlament und setzte die Subventionierung durch. Als ich einige Tage nach der Hochzeit auf dem Großen Basar in einem helal – Laden etwas kaufen möchte, werde ich nicht bedient. Die verschleierten Verkäuferinnen wenden sich ostentativ von mir ab – ich trage kein Kopftuch und bin damit als Unreine erkannt. Es ist, als sei ich gar nicht anwesend.
Religiöse Marktlücke
Die besser situierten Muslime gründen derzeit gezielt islamische Internate, zahlen bis zu 15.000 US-Dollar im Jahr, um ihre Kinder dort unterzubringen, vergeben Stipendien und bemühen sich, islamische Akademiker für alle Bereiche auszubilden. An vorderster Front sind dabei die Stiftungen des Predigers Fethullah Gülen, die inzwischen mit über 300 Ablegern ein weltweites Netzwerk von Internaten, Schulen und Studiengemeinschaften betreiben – auch in Deutschland. Zu Beginn hatte Gülen in der Türkei eine »Marktlücke« entdeckt. Er bot Abiturienten Vorbereitungskurse für die zentralen Aufnahmeprüfungen der Hochschulen an und erschloss sich so ein riesiges Rekrutierungsreservoir. Inzwischen hilft er nicht nur Schülern staatlicher Gymnasien auf dem Weg zum Studium, sondern unterhält selbst ein ganzes Imperium von Privatschulen und –universitäten.
Die AK P hat den Gläubigen den Weg an die Universität geöffnet. Bisher konnten die Absolventen der Imam-Hatip-Schulen, der Koranschulen, nur eine religiöse Fakultät besuchen, um dann Vorbeter oder Imam werden. Jetzt berechtigt ihre Kenntnis des Korans und der Hadithe sie auch zum Studium aller anderen Fächer. Professor Halis Ayhan, an der Marmara-Universität in Istanbul zuständig für religiöse Erziehung, Ethik und Kultur, erklärte schon 2004 in der Zeitung »Vakit«, wie man Kinder religiös erzieht: »Wichtig ist, dass das Kind von Geburt an mit dem Ruf des Muezzin aufwächst, um seine Seele so zu beeinflussen, dass sie ein Teil dieser Religion wird. Immer wenn die Eltern das Kind auf den Arm nehmen, sollten sie ihm das Glaubensbekenntnis ins Ohr sprechen. So wird gewährleistet, dass sein Leben islamisch geprägt wird.« Das hört sich noch eher harmlos an, aber es sind auch andere Fälle bekannt geworden: In einem Kinderheim in Istanbul
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