Bittersüße Heimat.
entkommen. 40
› Hinweis Die britischen Besatzer Palästinas waren über diesen nicht nachlassenden Zustrom wenig begeistert. Mehr als 10.000 Juden pro Jahr wollten sie nicht ins Land lassen, um die Araber nicht zu verärgern. Es galt, die Gründung eines Judenstaates in Palästina zu verhindern.
Über die britische Botschaft setzten sie die türkische Regierung unter Druck, die Einreise von Flüchtlingen über den Landweg und die Durchreise durch den Bosporus zu stoppen. 41
› Hinweis 1936 hatte die Türkei in dem Abkommen von Montreux die Meerengen und den Bosporus als internationale Gewässer anerkannt – niemand durfte zivile Schiffe an der Durchfahrt hindern. Aber den Türken war es erlaubt, Gesundheits- und Sicherheitskontrollen auf den Schiffen im Bosporus durchzuführen und sie gegebenenfalls, bei fehlenden Dokumenten oder Gefahr von Krankheiten, wieder aufs offene Meer zurückzuschicken.
Die Briten forderten die türkische Regierung nun auf, die »SS Struma« unter einem solchen Vorwand wieder ins Schwarze Meer zurückzubeordern. Sollten die Türken das ablehnen, so drohte die Admiralität, würde man das Schiff jenseits der Dardanellen aufbringen und zwingen, den nächsten türkischen Hafen anzulaufen. Aber solche Drohungen erübrigten sich eigentlich, denn die »Struma« war schon am Ende, bevor sie richtig losgefahren war.
Die Flucht mit dem völlig überladenen Dampfschiff stand von Beginn an unter einem schlechten Stern. Wenige Stunden nach dem Auslaufen aus dem Hafen von Konstanza war die Maschine ausgefallen und konnte von der Mannschaft nur notdürftig repariert werden. Vor der Einfahrt in den Bosporus explodierte der Kessel. Um den übrigen Schiffsverkehr nicht zu gefährden, nahm ein türkischer Schlepper den Havaristen auf den Haken, schleppte die »Struma« durch den Bosporus bis nach Istanbul und ließ sie direkt auf Reede vor Sultanahmet ankern.
Die türkische Hafenpolizei enterte das Schiff und ließ den Maschinenschaden untersuchen – vielleicht war die Havarie nur vorgetäuscht. Fünftausend Dollar, meinten die Ingenieure, würde die Reparatur wohl kosten und mindestens eine Woche dauern. Die Passagiere durften in dieser Zeit das Schiff nicht verlassen, denn aufnehmen wollten die Türken sie nicht.
Ein reger diplomatischer Austausch zwischen Ankara und London folgte. Die Türken drängten, die Flüchtlinge nach Haifa weiterziehen zu lassen. »Die Regierung Ihrer Majestät wünscht diese Leute nicht in Palästina«, ließ der britische Botschafter jedoch die türkische Regierung wissen. Längst kursierten, vermutlich gezielt lanciert, die wildesten Gerüchte: Die Gestapo habe als Juden getarnte Agenten auf die Flüchtlingsschiffe geschmuggelt, um in Palästina die Araber auf die Seite der Deutschen zu ziehen. 42
› Hinweis Die hygienischen Bedingungen auf dem Schiff waren katastrophal. Da keine Maschine funktionierte, gab es auch keinen Strom, keine Heizung, kein warmes Essen. Es war Dezember, und die Temperaturen sanken auf den Gefrierpunkt. Die meisten Passagiere litten inzwischen an Unterkühlung, die Kinder hungerten und hatten Fieber. Ende Februar hatte sich an dieser Situation noch immer nichts geändert. Die Zustände an Bord müssen unerträglich gewesen sein. Dort, wo sich vielleicht 150 Menschen notdürftig aufhalten konnten, drängten sich 800. Manche sprangen in ihrer Verzweiflung ins Wasser, wurden aber von den türkischen Behörden wieder herausgefischt und auf das Schiff zurückgebracht.
Einzig Simon Brod, ein jüdischer Textilkaufmann aus Istanbul, bemühte sich zu helfen. Er organisierte Essen, Kleidung und Medikamente. Aber fast 800 Menschen konnte auch er nicht einmal mit dem Nötigsten versorgen. Einige andere türkische Juden unterstützten ihn, aber nur heimlich, denn die Stimmung in der Stadt war angespannt. Als Jude war man wieder der Fremde, der Verdächtige, und als solcher ließ man besser die Finger von Angelegenheiten, an denen die Regierung beteiligt war. 43
› Hinweis
Die Istanbuler Öffentlichkeit nahm kaum Notiz von dem Schiff, das da vor der stolzen Kulisse der Stadt, nur 1000 Meter Luftlinie entfernt von dem alten Sultanspalast, dem Topkapi-Serail, auf Reede lag. Erst am 6. Januar 1942 meldete die türkische Zeitung »Tasvir i Efkar« in einer kurzen Notiz, dass die Juden aus Rumänien auf dem Schiff frieren würden, weil seine Maschine ausgefallen sei. Ein Grund zur Besorgnis sei das aber nicht, an Bord befänden sich viele Ärzte.
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