Bittersüße Heimat.
wurde systematisch geschlagen und misshandelt. Als der Fall untersucht wurde, stellte man fest, dass die zuständige Behörde in den Jahren zuvor alle Erzieherinnen entlassen und durch strenggläubige Frauen ohne pädagogische Ausbildung ersetzt hatte. Zum Glück werden solche Dinge aufgedeckt, obgleich die Kritiker solcher Zustände ständig unter Druck gesetzt werden.
Bilder der verschwundenen Stadt
Meryem, Cemal und der Professor stranden auf einer Insel in der Ägäis. Der Professor besäuft sich jetzt mit ausschweifenden Reden über die glorreiche Türkei – ein pensionierter General leistet ihm dabei Gesellschaft. Cemal lässt Meryem ziehen. Er ist verloren, weil er seine Pflicht nicht getan hat, zugleich aber ist er glücklich, nicht zum Mörder geworden zu sein. Meryem findet ihr Glück auf der Insel.
Als ich die Lektüre von Livanelis Roman beende, bin ich fast ein bisschen neidisch auf Meryem. Auch ich habe einmal einen Sommer auf einer kleinen Insel in der Ägäis verbracht, in einer Strandhütte zwischen den Ruinen alter griechischer Häuser. Unter lauter freundlichen Menschen, die wie Meryem Börek zubereiten und Fische braten, fühlte auch ich mich aufgehoben. Aber mutluluk , Glückseligkeit, hat wie Heimat keinen Ort. Vielleicht begegnet uns beides nur als Verschwundenes.
Das Café »Ara« liegt in derselben Straße wie das Goethe-Institut von Istanbul, gegenüber dem größten Gymnasium der Stadt, dem Galata-Lisesi. Der Fotograf Ara Güler besitzt dort zwei Häuser, in dem einen befindet sich das schöne Studentencafé, das andere beherbergt sein Privatmuseum, das er nur auf Anfrage öffnet. Auf zwei Etagen hat er seine Fotos ausgestellt, die die Stadt über einen Zeitraum von fünfzig Jahren zeigen. Es sind Bilder des untergegangenen Istanbul: eine Fähre, die in der Abendsonne vom Pier wegdreht; ein Fischer, die Zigarette im Mundwinkel, der vor der Silhouette des historischen Sultanahmet über den Bosporus fährt. Vor allem die Schwarz-Weiß-Fotos aus den 1950er und 1960er Jahren haben es mir angetan. Lange bleibe ich vor einem Foto der Galatabrücke stehen, das eine ganze Geschichte erzählt. Ein Paar geht in der Abenddämmerung über die Brücke – er ein Offizier in Uniform, sie, in Hut und Mantel, bei ihm untergehakt. Ein Wasserverkäufer spricht sie an, aber sie gehen fort aus dem alten Istanbul, sie lassen die Moscheen und Minarette hinter sich. Vielleicht wollen sie nach Beyoglu, in ein Restaurant oder zu einem Konzert, bei dem eine Sängerin traurige Lieder singt, oder zu »Inci«, einer Konditorei, wo man Profitörs bekommt, kleine Kugeln aus Brandteig mit Vanillefüllung und Schokoladensoße. Orhan Pamuk beschreibt dieses von Ara Güler verewigte Istanbul. Es ist das Istanbul der Vergangenheit. So wie es auch eines meiner Lieblingsgedichte von Orhan Veli festhält:
Ich höre Istanbul, meine Augen geschlossen .
Zuerst weht ein leichter Wind,
Leicht bewegen sich die Blätter in den Bäumen.
In der Ferne, weit in der Ferne
Pausenlos die Glocke der Wasserverkäufer.
Die Vergessenen der »SS Struma«
Am 7. Dezember 1941 verließ die »SS Struma«, ein Dampfschiff unter bulgarischem Kommando, den Hafen von Konstanza in Rumänien, an Bord 770 rumänische Juden, darunter 269 Frauen und Kinder – Passagiere, die man mit Anzeigen für die Überfahrt nach Palästina angeworben hatte. Es war höchste Zeit für sie, das Land zu verlassen, denn die Judenverfolgung hatte inzwischen auch Rumänien erreicht. Sie hatten alles zurücklassen müssen, nicht mehr als zwanzig Kilogramm Gepäck durfte jeder Auswanderer auf den maroden, mehr als fünfzig Jahre alten vormaligen Viehtransporter mitnehmen, der für einen längeren Aufenthalt von Passagieren gar nicht gerüstet war. Trotz der Kollaboration der rumänischen Regierung mit dem Hitler-Regime war den Flüchtlingen die Ausreise gestattet worden, obwohl die Deutschen zu diesem Zeitpunkt schon alle Schiffstonnage im Schwarzen Meer beanspruchten, um im Krieg gegen die Sowjetunion die Versorgung ihrer Truppen auf der Krim gewährleisten zu können.
Das Ziel der Flüchtenden war das Gelobte Land, durch das Schwarze Meer, den Bosporus und die Dardanellen, die Ägäis und das östliche Mittelmeer wollten sie nach Haifa gelangen. Es war nicht das erste Schiff, dessen Passagiere die Reise nach Palästina voller Hoffnung antraten. Seit 1938 waren auf diesem Weg mehr als 21.000 Flüchtlinge mit Unterstützung jüdischer Organisationen den Deutschen
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