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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt bereits die Ruhr unter den Passagieren ausgebrochen. Es gab weder hinreichende sanitäre Einrichtungen noch Medikamente, die den Kranken hätten helfen können. Nur vier Patienten durften an Land gebracht und in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Auch die internationale Presse schwieg, obwohl dieser Skandal auch ihr kaum entgangen sein dürfte, dafür gab es viel zu viele Korrespondenten in der Stadt.
    Tod im Schwarzen Meer
    Wir kennen bis auf einige Briefe, die von den Flüchtlingen geschrieben wurden, keine Augenzeugenberichte von der Situation an Bord, denn alle Passagiere und Besatzungsmitglieder – bis auf einen – sind tot. Aber es gibt ein literarisches Dokument. George Tabori, der während seiner langen Flucht vor den Nazis von 1939 bis 1942 in Istanbul lebte, arbeitete dort zeitweise unter dem Decknamen Leutnant Turner für einen englischen Nachrichtendienst.In seinem Roman »Das Opfer« hat er das Elend auf der »Struma« literarisch verarbeitet, 1942 wurde der Roman in London veröffentlicht. »Das Erste, was wir sahen, waren etwa zweihundert Kinder, die in einer langen Reihe an Deck lagen. Sie waren, schätze ich, im Alter zwischen fünf und zehn. Anfangs glaubten wir, sie seien alle tot … Es gab keinen Platz, wo man hätte gehen können, keinen Platz zwischen den Beinen der Kinder oder den vier oder mehr Reihen der Frauen und Männer … Ach, was für ein seltsamer Kontrast: … Die Sonne ging unter und verströmte die Herrlichkeit der Welt. Die Stadt war klar und heiter, in Blau und Gold getaucht mit den dunklen Wasserläufen und dem Himmel, der die Abhänge einrahmte … Und vor all dieser verschwenderischen Schönheit stand dieses dreckige Schiff.« 44
› Hinweis
    Im Januar 1942 war klar, dass das Schiff nicht mehr zu reparieren war und niemals mit eigener Kraft den Hafen von Istanbul verlassen könnte. Das diplomatische Geschacher zwischen London und Ankara aber ging weiter. Die Jewish Agency versuchte verzweifelt, wenigstens die Kinder zu retten und sie auf dem Landweg nach Palästina zu schaffen. Vergeblich. Die Seelenverkäufer in London und Ankara hatten ein kaltes Herz und waren bereit, das Leben der 800 Menschen aus machtpolitischem Kalkül aufs Spiel zu setzen. Im Januar 1942 änderte die türkische Regierung die Transitregelung: Transitvisa wurden nicht mehr für Personen ausgestellt, die wie die rumänischen Passagiere aus den von Deutschland besetzten Gebieten kamen – »selbst wenn sie ein gültiges Einreisezertifikat für Palästina besaßen«. 45
› Hinweis
    Alle Beteiligten spielten auf Zeit und warteten ab, dass sich die andere Seite bewegte. Ob es dann letztlich die Regierung in Ankara war, die eine Entscheidung traf, oder das Militär oder der Hafenkapitän von Istanbul, wissen wir nicht. Am Morgen des 23. Februar 1942 stürmten Polizisten an Bord der »Struma«, besetzten die Brücke und drängten alle Passagiere unter Deck und in die provisorischen Holzverschläge an Deck. Die Ankerseile wurden gekappt, das Schiff auf den Haken eines großen Militärschleppers genommen und durch den engen Bosporus gezogen. Die Flüchtlinge gerieten in Panik. » SOS « schrieben sie auf ihre Hemden, ein Plakat mit dem Schriftzug »Wir sind jüdische Flüchtlinge« hielten sie aus den Bullaugen – aber niemand am Ufer achtete darauf.
    Fünf Stunden dauerte die Passage durch den Bosporus hinaus aufs Schwarze Meer – welch unendlicher Weg in den Tod. Von Menschen und Kindern, »die sich an die Reling klammerten, die Fäuste schüttelten und etwas brüllten«, schreibt Tabori in seinem Roman. »Und als Debbs mir sein Fernglas gab, sah ich, wie drei Männer ein großes Schild unter dem Schornstein aufstellten: Wir werden alle sterben.« Der Kapitän ließ das alte Nebelhorn ertönen, und dann verschwand das Schiff zwischen den sanften Hängen des Bosporus. Zehn oder zwölf Meilen vor der Küste gingen die Türken von Bord, die Trosse wurde gelöst und die »SS Struma« ihrem Schicksal überlassen.
    In der folgenden Nacht wurde das manövrierunfähige Schiff von einem Torpedo getroffen. Abgefeuert hatte ihn – wie sich Jahrzehnte später herausstellte – das sowjetische U-Boot SHCH -213. Die sowjetischen U-Boote sollten vor allem Öltransporte für die deutschen Truppen aus Rumänien nach Italien verhindern. Anhand von Funksprüchen ließ sich rekonstruieren, dass den Sowjets von ihren Agenten aus Istanbul zwei Tanker auf dem Weg ins Schwarze Meer

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