Bittersüße Heimat.
anders gewesen, da seien solche Frauen nicht auf einen Sonntagsausflug gegangen. »Jetzt wollen sie alles mitmachen – aber es soll nach ihren Vorstellungen ablaufen.« Wenn seinem Onkel nicht das Schiff gehörte, könnte er sich die Provokationen nicht leisten, dann müsste er vorsichtiger sein.
Er ist Mitte zwanzig und tanzt seit seinem neunten Lebensjahr. »Meine Eltern sind Roma, sie wohnen in Bursa. Ich habe noch drei Geschwister, aber ich lebe in Beyoglu«, erzählt er. Dort tanzt er im Winter in Clubs und jobbt. Die Auftritte auf dem Boot sind ein Zubrot. Ob es schwierig sei, so zu leben, frage ich. Es sei schwierig, antwortet er, seine Würde in einer Männergesellschaft zu behalten, die die Schwulen benutze und gleichzeitig verachte. Vor kurzem sei in Beyoglu eine ganze Straße schwuler Lokale geräumt worden, weil die Stadtverwaltung daraus ein Viertel mit italienischen Restaurants und Bars machen wollte. Die Polizei sei gekommen, hätte die Menschen einkassiert und vor der Stadt ausgesetzt. Er sagt das nicht vorwurfsvoll, sondern wie jemand, der weiß, dass er daran nichts ändern wird, dem es aber auch egal ist, was andere über ihn denken.
Trotzkis Hummer
Die »Izzet Kaptan« steuert auf die Prinzeninseln zu. Wir passieren eine neu gebaute Ferienanlage. »Die ist für die Saudis, die hier Ferien machen«, erklärt der Tänzer. Die Hochhaussiedlung mit Moschee sei nach islamischen Grundsätzen errichtet worden: nach Geschlechtern getrennte Strandabschnitte und Restaurants, kein Alkohol, keine Musik, in jedem Gebäude Gebetsräume. Der saudische König sei mit einer riesigen Delegation im Land gewesen und hätte den Türken am liebsten die ganze Region um Bodrum abgekauft, um sie in heramlik und seramlik , in verbotene und offene Zonen, aufzuteilen, aber dazu habe nicht einmal die AKP – Regierung ihre Zustimmung geben wollen.
Die neun Prinzeninseln liegen vor Istanbul im Marmara-Meer, nur fünf davon sind bewohnt. Mancher byzantinische und osmanische Prinz wurde hierher verbannt, hier hatten die sephardischen Juden, die Armenier, die Griechen selbst noch nach Gründung der Republik und der ethnischen Säuberungen ihre Sommervillen. Türken durften nicht auf den Inseln wohnen. Es gab ein christliches Kloster und jahrhundertelang eine griechisch-orthodoxe Hochschule, die 1971 von der damaligen Militärregierung geschlossen wurde. Hier lebte auch ein anderer prominenter Mann, der aus seiner Heimat verbannt worden war, er fing Hummer aus dem Meer und verkaufte, was er und seine Gäste nicht verspeisten, an die benachbarten Restaurants. Gleichzeitig schrieb er viel und versuchte, von der Insel aus eine antistalinistische Internationale zu gründen: Leo Trotzki, einer der Anführer der Russischen Revolution, lebte, nachdem er in der Sowjetunion den Machtkampf gegen Stalin verloren hatte, ab 1929 mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in einer der größten Villen von Büyükada, in der Cankaya Caddesi Nr. 55. 1933 suchte er Asyl in Frankreich, weil er nicht sicher war, ob die türkische Regierung dem Druck der Sowjets, ihn auszuliefern, standhalten würde.
Büyükada hat noch heute, sofern man nicht gerade, wie wir, an einem Sonntag im Sommer kommt, den Charme einer Sommerfrische. Die Eleganz der Fin-de-Siècle-Villen, die Pferdekutschen, die Restaurants, alles atmet eine leicht entrückte Gelassenheit, die viele Inseln überall auf der Welt auszeichnet. Die »Izzet Kaptan«ist nicht der einzige Ausflugsdampfer, der für zwei Stunden am Anleger festmacht. Regelmäßig kommen Fähren, Dampfer und Motorboote mit Ausflüglern vom Festland herüber. In den kleinen Straßen ist es voll wie am Samstag auf der Istiklal Caddesi in Beyoglu. Wenn man frittierte oder gefüllte Muscheln, eine Istanbuler Spezialität, essen will, muss man sich zügig und entschlossen einen Platz vor den Restaurants suchen. Die meisten unserer Mitreisenden wollen aber erst einmal schwimmen und springen gleich vom Anleger aus ins Wasser. Wir ziehen es vor, in den Gassen bergauf zu gehen, um der drangvollen Enge zu entkommen. Oben haben wir einen eindrucksvollen Rundblick auf die anderen Inseln und die Boote im glitzernden Wasser.
Unser Boot ist noch nicht am Ziel, die Reise geht weiter, vorbei an Haydarpasa und der kleinen Insel mit dem Leanderturm, vorbei am prächtigen weißen Dolmabachce-Palast, unter der großen Brücke hindurch bis nach Kanlica. Als wir in den Bosporus einfahren, werden die Menschen schweigsamer, sie sind von
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