Bittersüße Heimat.
nachgeschenkt wurde, während wir eine Limonade über den ganzen Abend strecken mussten.
Die Bühne ragte bis in die Mitte des Restaurants. Wenn eine Sängerin an das äußerste Ende der Bühne trat, meist dann, wenn sie gerade eine gazel – Stelle mit einer kleinen Pause beendete, dann sprangen wir von unseren Stühlen auf, klatschten frenetisch Beifall und mein Vater schrie »Bravo, Bravo!«, was das vornehme Publikum ein bisschen peinlich berührte. So ein Konzert dauerte bis Mitternacht. Zum Schluss trat, von allen mit Spannung erwartet, der assolist , der Star des Abends, auf. Vorher wurde meist eine längere Umbaupause eingelegt, der Vorhang geschlossen, das Geschirr und die letzten Moccatassen wurden von den Tischen geräumt.
Dann betrat der erste Geiger die Bühne, von stürmischem Beifall empfangen. Wenn alle Musiker Platz genommen hatten, ertönte ein Instrumentalstück, der Raum wurde verdunkelt, eine Showtreppe vom Scheinwerferlicht angestrahlt, und ganz oben öffnete sich an einer besonderen Stelle des Musikstücks eine glitzernde Tür. Heraus trat der assolis t und ließ sich feiern. Die weiblichen Stars trugen meist atemberaubende enge Kleider mit einem riesigen Dekolleté und einer Schleppe. Singend stiegen sie dann die Treppe hinunter, wir hielten alle den Atem an in der Hoffnung, sie möge bis an die Spitze der Bühne vorkommen, damit wir den lautesten Beifall spenden konnten. Als Höhepunkt des Abends wurde oft das Lied »Makber« gesungen. Und wenn dabei der Ton überraschend lange angehalten wurde, sprangen alle von den Stühlen auf, Rosenknospen und Taschentücher wurden auf die Bühne geworfen und alle schluchzten im Chor »Allahhh!«
Auch bei diesen Konzerten spielte meine Mutter das Horoskopspiel und reservierte sich das dritte, fünfte oder siebte Lied als Kismet. Ich durfte als kleines Mädchen, als »Sorgenfreie«, bei diesem Spiel nicht mitmachen, tat es aber heimlich doch. Am liebsten hatte ich die Lieder, die das Leben in Istanbuls Stadtteilen besangen. Ich glaube, das ist einzigartig: Fast jedes Viertel hat mindestens ein eigenes Lied, eine Liebeserklärung: yok baska yerin lütfu ne yazdan , nede kischtan , bir tatli huzur almaya geldik Kalamista ; »An keinem anderen Ort wirst du so viel Sommer, so viel Winter haben, an keinem anderen Ort wirst du eine so süße Brise atmen können wie in Kalamisch.« Kalamisch ist ein Badeort auf der asiatischen Seite bei Kadiköy, wo wir Kinder schwimmen gelernt hatten und wohin wir sonntags zum Picknick gingen. Bis heute kann mich dieses Lied zu Tränen rühren. Aber auch die Lieder über Camlica oder Beyoglu, »oh meine Liebe, warum machst du mir so viel Kummer, oh meine Kleine, warum musst du dich so zieren …«, begleiteten uns durch die Sonntage.
An allen diesen Orten schippern wir auf unserem Ausflug vorbei. Als der Dampfer bei Istinye wendet, ist es bereits dunkel. Unser Tänzer bereitet sich auf den letzten Teil seines Programms vor. Er sucht den besten Tänzer und die beste Tänzerin, die Bosporus-Queen. Und wieder wechselt die Musik: Jetzt hören wir die Lieder der gecekondus , ein Mix aus orientalischen Klängen und Poprhythmen. Die Lieder erzählen von den Verlierern und den Verlorenen, denen Allah zur Seite stehen möge: bir tesselli ver, yarattin mecnuna, bir teselli ver , »Gib mir Trost, du Schöpfer, du hast mich erschaffen, gib mir Trost …« – mit diesem Lied von Orhan Gence bay auf den Lippen fahren wir auf die Küste von Mudanya zu, die Frauen mit den Kopftüchern singen besonders laut. Unser Tänzer hat sich abgeschminkt, seine Kostüme eingepackt und raucht eine Zigarette.
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Süß essen, süß sprechen
In der Silhouette des Sultanspalastes in Istanbul , des Topkapi-Serail , sind die vielen Schornsteine des Küchentrakts besonders auffällig . Die Palastküche versorgte Tausende , und die osmanischen Tischsit ten und Speisen prägen bis heute die türkische Esskultur , die einige Überraschungen für die Küchen der Welt bereithielt , zum Beispiel Joghurt und – man staune: Tiefkühlkost . Aber selbst in den Speiseplan greift die Religion maßgeblich ein und macht damit Politik .
Bevor meine Eltern meine Geschwister und mich 1966 nach Deutschland holten, wurden wir ein Jahr bei meiner Großmutter Emmana in Pinarbashe »geparkt«. Meine Großmutter war fast siebzig Jahre alt und führte ein strenges Regiment. Sie hatte ein Pferd, eine Peitsche und einen riesigen Schlüsselbund am Gürtel, mit dem sie über
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