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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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gegen »heimgeholte«, in Griechenland lebende türkischstämmige Muslime »ausgetauscht«. Die Vertriebenen aus Mudanya gründeten auf der nordgriechischen Halbinsel Chalkidiki die Stadt Nea Moudania. Von der griechischen Vergangenheit in Mudanya zeugen noch einige Villen am Ufer und das weiße Palais, in dem der Vertrag unterzeichnet wurde.
    Wir schippern an Villen vorbei, dann dreht unser Boot Richtung Bosporus ab. Die Passagiere packen ihre Picknickkörbe aus, börek , Blätterteigpasteten, und simit , Sesamkringel, werden herumgereicht, Tomaten geviertelt, Cola-Flaschen geöffnet und Olivenkerne ins Meer gespuckt. Alle sind an Bord: die coolen Mädchen mit Sonnenbrille und knappem Top, die von Anfang an tanzen und erst damit aufhören werden, wenn das Boot zehn Stunden später wieder in Mudanya angelegt hat; die von Frauen und Kindern getrennt sitzenden Familienväter, die, ein Teeglas in der Hand, aufs Wasser oder auf die Mädchen starren und die von ihren Frauen gebrachten Häppchen essen.
    Plötzlich wechselt die Musik.

Der Schleiertanz
    Orientalische Klänge von der darbuka , einer Trommel, und der Zither ertönen aus den Lautsprechern, und bei den ersten Lauten taucht in der Tür der Oberdeckkajüte ein von oben bis unten verschleiertes Wesen auf. Nur die Augen sind zu sehen, der Kopf und der schlanke Körper sind von einem paillettenbestickten Kleid aus lauter Schleiern verhüllt, die ein Geheimnis verbergen. Die verhüllte Gestalt lässt zur Musik langsam das Becken kreisen und tanzt geschmeidig durch die Reihen der Passagiere. Als der erste Schleier fällt und den Bauch freigibt, erkennt jeder: Es ist ein köcek , ein tanzender Mann in Frauenkleidern, der die immer schneller werdenden Bewegungen vollendet beherrscht.
    Die Kunst beim Bauchtanz besteht darin, den Bauch, die Hüften, die Schultern, den Kopf unabhängig voneinander im Takt der Musik zu bewegen. Wenn die Schultern kreisen, bleiben Hüften und Kopf bewegungslos, wenn der Bauch rhythmisch vor- und zurückbewegt wird, sind die Schultern ruhiggestellt. Da ist Körperbeherrschung gefragt. Immer schneller rast die Trommel, immer wilder wird der shimmi , das rasante Schütteln, das sich in Wellen über Hüfte, Bauch, Oberkörper, Schultern ausbreitet und von den zur Seite oder nach oben gereckten Armen unterstrichen wird, bis der Tanz mit einem letzten Schlag auf die darbuk a plötzlich endet und Stille herrscht. Die Zuschauer sind begeistert. Allerdings nicht alle.
    Am größten Tisch des Oberdecks sitzen acht ältere Frauen, alle tragen das Kopftuch nach islamischer Art gebunden, einen langen Mantel oder die obligatorische Strickjacke über Kleid und Pluderhose; vor ihnen steht eine Tagesration an Speisen in Plastikdosen und Tüten. Mit unverhohlener Neugier, wenngleich mit strafenden Blicken, schauen sie dem Verschleierten zu. Von Zeit zu Zeit tuscheln sie miteinander.
    Der köce k nimmt die Herausforderung an: Während einer seiner nächsten Darbietungen tanzt er auf die Frauen zu, rückt ihnen buchstäblich zu Leibe. Die Frauen finden das gar nicht lustig, beschimpfen ihn. Er steigt auf ihren Tisch und provoziert sie, wackelt mit der Brust vor ihrer Nase, spielt mit ihnen wie sonst mit den Männern, die ihm dafür Lirascheine auf die Stirn kleben oder ins Kostüm stecken. Nun werden die Frauen richtig wütend, eine von ihnen greift sogar zur Stricknadel und sticht nach seinen Beinen. Für einen kurzen Moment droht die Szene zu eskalieren, aber der Tänzer ist Profi, er scheint sich schon öfter in bedrohlichen Situationen befunden zu haben und tanzt zum Finale wieder zurück zu seiner kleinen Tanzfläche, nimmt das Mikrofon, bedankt sich für den Applaus und sagt: »Wir sind hier, um Spaß zu haben, um uns am Meer, an der Musik und am Tanz zu erfreuen. Einige unter uns scheinen dieses Vergnügen nicht zu teilen. Sie fühlen sich belästigt. Aber, meine Damen und Herren, wenn wir solchen Leuten nachgeben, wenn wir unsere Schleier nicht mehr fortwerfen können, dann wird auch unsere Freiheit eingeschnürt.« Es fehlt nur noch der Ausruf: Es lebe die Republik! Die Menschen klatschen, die Frauen am Tisch sind empört. Der Tänzer dreht die Musik wieder auf, und nun dröhnt wieder der türkische Pop über Deck, die coolen Mädchen können weitertanzen.
    Ich spreche den jungen Tänzer an, nachdem er sich hinter seiner Decke umgezogen hat. Er erzählt, dass er Reaktionen wie die der älteren Frauen häufiger erlebe. Vor einigen Jahren sei das noch

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