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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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das Haus herrschte. Von morgens früh bis abends spät war sie auf den Beinen, kontrollierte, was in Haus und Hof geschah, überwachte, was Schwiegertöchter, Söhne und Bedienstete auf dem Feld und im Stall machten, und sorgte dafür, dass im eigenen Backhaus täglich für die mehr als zwanzig Personen des Hauses Brot gebacken wurde.
    Das Haus war traditionell eingerichtet, es gab keine Tische oder Stühle, sondern man wohnte osmanisch. Nur meine Onkel, die Tankstellen führten, und die Beamten aus Ankara, die der Mode der Republik folgten, hatten »europäische« Möbel – Tisch, Stühle, Schränke – und wurden entsprechend bewundert. Der große Raum im Haus meiner Großmutter hingegen hatte an den Wänden und unterhalb der Fenster eine Empore, auf der Kelimkissen lagen. Darauf saßen oder lagen wir. In der Mitte des Raums stand ein mangal , ein Kohlebecken aus Silber. An den Wänden hingen alte Gewehre, Säbel und Gewänder aus Erzurum, der Heimat der Familie. In diesem Raum wurde gegessen. Ein sofra , ein großes rundes Kupfertablett mit Gestell, wurde zum Essen auf den Teppich gerollt. Jedes Mitglied des Hauses bekam einen Holzlöffel und einen Zinnbecher für den ayran , ein Joghurtgetränk, das es zu jeder Mahlzeit gab. Das Essen wurde in einer großen Schüssel in die Mitte gestellt. Wir alle saßen um das sofr a und die Schüssel herum. Das Essen bestand meistens aus bulgur , gekochtem und gewürztem Weizenschrot, über den flüssige Butter gegossen wurde. Dazu gab es Joghurt, Brot und Hammelkeule, an besonderen Tagen ein Hühnchen. Gemüse wurde kaum gegessen. Zum Nachtisch gab es je nach Jahreszeit Äpfel oder Aprikosen. Nach dem Essen wurden Kichererbsen und Körner verzehrt.

Osmanische Tischsitten
    Erst als ich mich mit den Speise- und Essgewohnheiten der Osmanen beschäftigte und dabei alte Kochbücher durchsah, wurde mir klar, dass diese Tischsitten seit Jahrhunderten üblich waren. Die Miniaturen, die das Leben im Topkapi-Serail darstellen, zeigen die gleiche Situation wie bei meiner Großmutter. Der Sultan sitzt mit seinen Gästen auf dem Boden, in der Mitte ein Tablett mit einer Schüssel, aus der alle mit langstieligen Löffeln essen. Der Bericht eines spanischen Reisenden aus dem Jahr 1555 beschreibt eine Mahlzeit im Haushalt des Großadmirals Sinan Pascha: »Wie es Sitte ist, auf dem Boden zu sitzen, so essen sie auch auf dem Boden. Damit die Teppiche nicht verschmutzen, breiten sie das Tafeltuch, ein dickes und farbiges Stück saffian aus Pferdeleder oder einem ähnlichen Leder, aus. Um als Mundtuch zu dienen, breiten sie ein Stück Stoff, das groß genug ist, um an allen vier Seiten über die Knie gezogen zu werden, auf dem Leder aus, ähnlich wie bei der Heiligen Kommunion in der Kirche. Man sagt zu dem Leder auf dem Boden ›Tafel‹, sofra.« 52
› Hinweis
    Es gab an diesen Tafeln weder Messer noch Gabel, weder Salz und Pfeffer noch Teller. Wenn Fleisch angeboten wurde, legte man es auf ein Stück pide , Fladenbrot, das jeder sich abbrach. Der Löffel war das einzige Besteck, jeder trug seinen eigenen in einem besonderen Beutel mit sich. Verschiedene Berichte aus der osmanischen Zeit zeigen, dass die Gerichte selbst nicht das Entscheidende waren – wichtiger war das Beisammensein, so wie der Prophet seine Gläubigen ermahnt: »Verzehrt euer Essen zusammen mit eurer Familie, denn im gemeinsamen Mahl liegt Segen.« 53
› Hinweis
    Gastfreundschaft ist der türkischen Kultur heilig, auch ein unangemeldet erscheinender Besucher gilt als »Gottesgast« und wird niemals von der Tafel ausgeschlossen. Aber »der Gast isst nicht, was er will, sondern was es gibt«, lautet ein Sprichwort.
    Die Palastkantine
    Die Berichte von den Festen im Sultanspalast sprechen eher von den Mengen, die bei einer Hochzeit oder einem Beschneidungsfest verzehrt wurden, als von besonders feinen Zubereitungen. Die Küche im Topkapi-Serail war eine Art riesige Kantine, von der nicht nur Amtsträger, offizielle Gäste und Tausende von Serail-Bewohner versorgt wurden, sondern auch Teile der Leibgarde des Sultans, der Janitscharen. Auch gab es im ganzen Land Armenküchen, die von religiösen Stiftungen und Derwischkonventen betrieben wurden, um die Mittellosen zu verköstigen. Dadurch hat sich die heute noch übliche Art der Essenszubereitung durchgesetzt: »Das beste Essen ist das, was fertig ist«, umschreibt der Volksmund diese Tradition. Wer in eine der preiswerten lokantas der Türkei geht oder in einer

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