Bittersüße Heimat.
gemeldet worden waren. Vielleicht galt der Angriff eigentlich diesen Schiffen, und die »Struma« wurde versehentlich getroffen.
Die »SS Struma« sank in der Nacht vom 24. Februar 1942, etwa 14 Seemeilen nordnordostwärts der Bosporus-Ausfahrt. 769 Kinder, Frauen und Männer ertranken, nur David Stoliar, ein junger rumänischer Jude, überlebte. Er klammerte sich an eine Planke, sein schwerer Mantel bewahrte ihn vor dem Kältetod. Am folgenden Tag wurde er von den Männern der Rettungsstation von Sile aus dem Wasser gefischt, ins Krankenhaus gebracht und dann von den türkischen Behörden wegen illegaler Einreise in die Türkei verhaftet. Später gestattete ihm die britische Regierung die Weiterreise nach Palästina. 46
› Hinweis
»Diese Menschen erlitten ein tragisches Schicksal«, gab der britische Hochkommissar für Palästina, Sir Harold MacMichael, zu, »aber man muss auch beachten, dass sie Bürger eines Landes waren, das mit Britannien im Krieg stand, und sie direkt aus Feindesland kamen. Palästina war ihnen zu nichts verpflichtet.« Jüdische Untergrundorganisationen sahen das anders. 1942 verteilten sie in Tel Aviv, Haifa und überall, wo die Briten stationiert waren,MacMichaels Steckbrief: »Gesucht wegen Mordes an 800 Flüchtlingen«.
Der türkische Ministerpräsident Rafik Saydam erklärte 24 Stunden nach dem Tod der Flüchtlinge unbeeindruckt: »Die Türkei kann keine Heimat für die Menschen sein, die von allen anderen nicht erwünscht sind.« 47
› Hinweis Bis heute hat es kein Bedauern, keine Beileidsbekundungen, keine Entschuldigung der Türkei für ihre wissentliche Beteiligung an diesem Verbrechen gegeben. Schlimmer noch: Die Toten der »SS Struma« sind vergessen. Nichts erinnert an sie, nicht einmal eine kleine Tafel am Leuchtturm von Sile.
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Auf dem Fluss des Lebens
Wie oft bin ich als Kind au f dem Bosporus mit einem Boot gefahren , hinaus nach Bebek oder Sariyer , um gegrillten lüfer , Blaubarsch , zu essen; oder zum Schwarzen Meer nach Sile , um dort zu baden . Oder unter der großen Brücke hindurch bis nach Kanlica , wo es den köst lichsten Joghurt gab . Der Bosporus gehört zum Land meiner Kind heit wie die Musik der Stadt . Und wenn die ersten Istanbul-Lieder er tönen , bin ich wehrlos: hüzün überfällt mich , die türkische Variante der Melancholie – ein traurig-glückliches Lebensgefühl , durchmischt von Schmerz über Verlorenes . Heimat ist auch in Musik aufgehoben .
Als die »Izzet Kaptan« den Pier von Mudanya verlässt, findet sich kein freier Platz mehr an Bord. Jeder Stuhl, jede Bank auf dem Hauptdeck und Oberdeck des weißen Ausflugsdampfers ist besetzt, die Menschen hocken an der Reling, auf den Aufgängen, einfach überall. Zugelassen ist das Schiff vielleicht für 200 Personen, aber an diesem Sommersonntag sind es sicher doppelt so viele, die »die Schönheiten des Bosporus« vom Schiff aus erleben wollen. Schon lange vor der Abfahrt hatten Familien mit Taschen und Körben das Schiff gestürmt, um einen guten Platz auf dem Sonnendeck zu ergattern. Auch Peter und ich erobern einen Platz in der Sonne, der wie alles im Leben auch seine Schattenseiten hat, wie wir kurz darauf merken. Kaum hat das Schiff die Anlegestelle verlassen, setzt Musik ein. Türkischer Pop in einer Lautstärke, die vermutlich auch die Bewohner an Land informieren möchte, dass hier ein Vergnügungsdampfer unterwegs ist. Wir sitzen im Wind, in der Sonne und neben den Lautsprecherboxen.
Mudanya, an der südlichen Seite des Marmarameers gelegen,war einst ein eher kleiner, von etwa 30.000 Menschen bewohnter Luftkur- und Badeort mit einer Bahnverbindung nach Bursa. Die Luft soll hier besonders jodhaltig sein. Heute ist die Bahnlinie stillgelegt, der Bahnhof ist ein Hotel und Mudanya so etwas wie ein Vorort von Istanbul, mit der Schnellfähre ist man in neunzig Minuten dort. Direkt an der Küste, wo die üblichen Hochhaussiedlungen aus der Erde schießen, haben sich einige Unternehmen der Elektroindustrie angesiedelt.
Historisch spielte der Ort im türkischen Unabhängigkeitskampf gegen die Griechen eine Rolle. Hier landeten 1920 die Engländer, um die Griechen zu unterstützen. Hier wurde am 11. Oktober 1922 der Waffenstillstand mit den Alliierten unterschrieben, der den Rückzug der fremden Truppen aus Thrakien festlegte und die bis heute gültigen Grenzen der Türkei bestätigte. Bis dahin war Mudanya eine griechische Stadt gewesen, aber die dort lebenden Griechen wurden jetzt
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