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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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der Kulisse der Stadt beeindruckt. Aus den Lautsprechern ertönen jetzt nur noch Istanbul-Lieder.

Trost und Tränen
    Die Musik ist das, was mich am tiefsten mit der Stadt verbindet; kaum erklingt eine bestimmte Melodie, sind meine Erinnerungen an die Kindheit wieder da, an die von leichter klassischer Musik begleiteten Sonnenaufgänge, an die Tränen, die meine Mutter und ich bei den melancholischen Liedern vergießen konnten, die von herzzerreißender Sehnsucht nach Liebe oder vom Schmerz der Trennung erzählen. Es waren Lieder, die uns durch den Tag begleiteten. Und ich dachte dabei an die ständig wechselnden Liebschaften meines großen Bruders, für die ich immer ein passendes Lied parat hatte.
    Im Sommer deckte meine Mutter bereits am frühen Abend den Tisch, das Essen hatte sie schon am Nachmittag vorbereitet. Dann saßen sie und meine Schwester mit einigen Frauen aus der Nachbarschaft bis zur Ankunft der Familienväter um das Radio und spielten ein Spiel, bei dem das Musikprogramm zum Tages horoskop wurde: »Das nächste soll mein Lied sein, mal sehen, ob es zu mir passt; mal sehen, was mein Schicksal heute sagt.« Wurde das Passende gespielt, riefen alle freudig »Aaaahhh!«, ertönte ein trauriges Stück, trösteten sie sich gegenseitig. Meine damals vierzehnjährige Schwester war süchtig nach Liebesliedern: » Benim gönlüm sarhostur yildizlarin altinda, sevismek ah ne hostur yildizlarin altinda «, »wie beschwingt ist mein Herz unter einem Sternenhimmel, wie schön muss es sein, unter den Sternen sich zu lieben …«
    Ein Lied, das keiner »haben« wollte, war Makber , das Grab. »Her yer karanlik« , alles ist so finster – so beginnt es. Es ist ein altes ägyptisches Lied, das eigentlich von Um Kalthum auf Arabisch gesungen wurde; Safiye Ayla, die türkische Edith Piaf der 1940er Jahre, sang es auf Türkisch. Das Lied ist ein langer verzweifelter Schrei, ein gazel , mit anhaltendem Ton, der in einem Wimmern wie eine endlose Klage ausgestoßen wird. Bei einem gaze l ist es entscheidend, wie lange der Sänger es schafft, den Ton anzuhalten. Erst bei der Pause wagt man als Zuhörer, selbst wieder zu atmen; und wenn der Ton gut getroffen wird, fangen die Zuhörer laut an zu schluchzen. Es gab nur wenige Sängerinnen und Sänger, die sich trauten, gazel s zu singen.
    Auf den billigen Plätzen
    Der Höhepunkt des Sommers in Istanbul waren die Freiluftkonzerte in den gazinos , wie wir sie nannten, Gartenlokalen für etwa achtzig bis hundert Gäste, die eine eigene kleine Bühne hatten. Dort konnte man einen Tisch reservieren. Hauptattraktion des Abends war meist ein bekannter Sänger oder eine Sängerin, die mit eigenem Orchester und Chor kamen. Man aß meze , kalte wie warme Vorspeisen, zu Raki oder Wein, an den hinteren Tischen wurde eher Bier oder Limonade getrunken und Knabberzeug bestellt. Dort auf den billigen Plätzen saßen wir, weil meine Eltern sich mit ihren vier Kindern, die sie immer mitnahmen, anderes nicht leisten konnten. Mein Vater liebte diese Konzerte, und wir Kinder hatten so Gelegenheit, die großen Stars von damals kennenzulernen, wie Behiye Aksoy, Gönül Yazar oder den bekanntesten unter den Gazinostars, Zeki Müren.
    Unter leisen Klängen wurden die Besucher von Kellnern in weißen Westen an die teuren Meze-Tische geführt. Mein Vater, der mit uns meist als Erster da war, um ja nichts zu verpassen, mokierte sich gern über die Spätkommenden: »Ja, ja, Geld, aber keine Muse. Kultur zeigt sich eben nicht am Portemonnaie.« Darauf erwiderte meine Mutter oft schnippisch: »ked i uzanamaya n ete , kokmu s dermis« , »Die Katze, die an das Fleisch nicht herankommt, sagt, es sei verdorben.« Während ich den Geigen, den Flöten und den Sängern lauschte, beobachtete ich die Tische, die ganz nah an der Bühne standen. Was dort alles aufgetragen wurde! Haydari , Käsecreme, mucver , Zucchinipuffer, patlican , Auberginenmus, sigar a böregi , Blätterteigrollen, pirzola , Lammkoteletts, karides , Krabben, tatlis , Melonen, und vieles mehr. Ich träumte davon, den Stars auch einmal so nah zu sein und dabei so viel von diesen Köstlichkeiten zu essen, bis ich keinen Bissen mehr hinunterkriegen könnte. Dabei war ich nie hungrig, wenn wir im Gazino saßen. Meine Mutter war so schlau, uns an solchen Konzerttagen den ganzen Tag über diverse Böreks in den Mund zu schieben, sodass wir abends pappsatt waren. Aber ich beneidete die feinen Gäste, denen von Kellnern Speisen serviert und Wein

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