Bittersüße Heimat.
ein Versicherungsvertreter, hat Papiere vor sich, ein dritter ist Losverkäufer. Geschäft und Zeitvertreib scheinen hier eins zu sein.
Im alten arabischen Viertel ziehen sich die zur Straße fensterlosen Häuser wie eine lange Festungsmauer entlang. Außer einigen Jungen, die mit einer Coladose herumkicken, ist hier niemand zu sehen. Bald wird die ganze Altstadt restauriert sein, sagt unser Stadtführer. Es gebe auch alte christliche Bürgerhäuser, die jetzt zu Boutiquen oder Galerien für die Touristen umgebaut werden. Ismail erzählt, dass er in diesem Viertel geboren wurde und ein Straßenkind war. Als Gehbehinderter hatte er kaum eine Chance, einen Beruf zu erlernen oder zur Schule zu gehen. Irgendwann tauchte im Viertel ein Beamter vom Tourismusministerium auf und sprach die Kinder und deren Eltern an, wer eine Ausbildung als Fremdenführer machen wolle. Er sagte sofort ja, und so lebt er seit einigen Jahren davon, Touristen die Stadt zu zeigen. Er bekommt keinen geregelten Monatslohn, hat aber einen Ausweis, dass er in den Hotels Gäste wie uns ansprechen darf.
Er möchte uns gern noch einige Läden zeigen, geführt von »guten Freunden« von ihm. Er schleppt uns zu einem Geschäft, wo es den »besten Granatapfelsirup der Stadt« gibt. Auch dazu lassen wir uns überreden. Aber als wir dann nur zwei Literflaschen Sirup und ausschließlich die kleinsten Packungen der Gewürze kaufen, ist der Ladenbesitzer unzufrieden. Ob ich denn nur eine kleine Familie hätte, fragt er mich.
Hochbetrieb im Ramadan
Es ist Zeit für das Konzert. Wir warten neben der Quelle im Foyer auf unseren Taxifahrer. Die Kellner sind in traditionelle Trachten gekleidet, und das Restaurant tischt klassische Urfa-Küche auf. Wir würden gern ein Bier trinken, aber der Kellner bedauert: »Urfa ist die Stadt des Propheten, deshalb sind wir besonders darauf bedacht, die religiösen Gebote einzuhalten.« Also wieder: »Zwei Wasser, bitte!« Neben uns sitzt eine junge Frau in engen Hosen und einem knappen, ärmellosen Top, die mit ihren Verwandten in Ankara telefoniert. »Ich bin hier in der Wüste, du kannst keinen Schritt vor die Tür gehen, die glotzen dich an, als kämest du vom Mond!«
Der Portier holt uns ab und mahnt: »Fahren Sie bitte nur mit diesem Taxi, wir kennen den Fahrer. Er holt Sie auch wieder ab. Sie müssen ihm nur sagen, wann.«
Das große Haus, in dem das Konzert stattfinden soll, ist in maurischem Stil aus Sandstein gebaut und mindestens zweihundert Jahre alt. Es liegt in einem Labyrinth von unbeleuchteten Straßen und Gassen. Der weite Innenhof ist zur Straße hin durch eine Mauer und ein Tor geschützt. In der Mitte steht ein Zitronenbaum vor einem alten Brunnen, im ersten Stock gibt es eine umlaufende breite Galerie, von der Türen zu den Zimmern abgehen. Wir nehmen an einem Tisch im Hof Platz, bekommen einen Tee und warten, bis wir in den Speisesalon geführt werden.
Heute würden nicht viele Gäste kommen, sagt uns der Chef. Ramadan, der Fastenmonat, sei gerade zu Ende gegangen. Da herrsche hier Hochbetrieb. Fast jeden Abend werde iftar , das Fastenbrechen, ab Sonnenuntergang, gefeiert, Musik gemacht, gegessen und bis in den Morgen, bis zum savur , der Zeit vor Sonnenaufgang, gesungen. Überhaupt sei die Stadt im Ramadan nicht wiederzuerkennen. Tausende von Muslimen würden im heiligen Monat in die Stadt kommen, um den Wallfahrtsort zu besuchen. Die ganze Nacht hätten die Geschäfte auf und dafür tagsüber geschlossen. Essen, religiöse Musik hören, tavla , Backgammon, spielen, einkaufen – die Stadt sei geradezu im Ausnahmezustand gewesen, so viele Gäste wie in diesem Jahr seien noch nie da gewesen, schwärmt der Herr des Hauses. Die religiösen Feste hätten wieder ihre richtige Bedeutung gewonnen, sagt er und fügt stolz hinzu: »Daran sieht man doch, nicht nur die Araber sind richtige Muslime!«
Mit uns sind es schließlich zehn Gäste, die alle in den eigens für siragecesi eingerichteten Raum geführt werden und auf dem Boden Platz nehmen. Der Raum mit seinem Kreuzgewölbe, in dem früher wohl Waren gelagert wurden, ist mit Kelimkissen und Teppichen ausgelegt, an den Wänden stehen Sitzkissen, daneben kleine silberne Tabletts für das Essen. Uns gegenüber nimmt eine kleine Familie ihren Platz ein. Der Mann ist ungefähr sechzig Jahre alt, neben ihm seine Frau, vielleicht achtzehn, höchstens zwanzig, die ihre kleine Tochter auf dem Arm hält. Sie wohne mit ihrem Mann in Nablus, Palästina, erzählt
Weitere Kostenlose Bücher