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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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flüchteten vor den muslimischen Steuereintreibern in die Städte oder in die Höhlen Kappadokiens, andere folgten ihren Herden von den Bergen in die Täler. Die ehemals kultivierte Agrarlandschaft verödete im Laufe der Jahrhunderte zunehmend, weil immer nur abgeholzt, das Land aber nicht wieder aufgeforstet wurde. Da die Osmanen sich auf Krieg und Handel und nicht auf Landwirtschaft und Handwerk verstanden, der Reichtum also nicht aus Arbeit, sondern aus Aneignung entstand, waren sie darauf angewiesen, ständig weitere Beute zu machen. So war ihr Drang, neue Territorien zu erobern, nicht nur ein Auftrag des Glaubens, sondern eine ökonomische Notwendigkeit.

Volk ohne Wurzeln
    Der Krieg auf dem Balkan 1877, der Verlust der Provinzen Montenegro, Serbien, Rumänien und Bulgarien, das 1908 unabhängig wurde, die Abtretung Zyperns, die Konvention über Kreta, die Gründung der ersten jüdischen Kolonien in Palästina, die Besetzung von Tripolis durch Italien, der Krieg gegen Russland und die Auseinandersetzungen im Inneren des Reiches, wie der niedergeschlagene Armenier-Aufstand in Van 1896, brachten so große Flüchtlingsströme und Vertreibungen mit sich, dass man fast von einer Völkerwanderung sprechen kann.
    Die Armenier flohen aus Istanbul Richtung Osten. Allein in Van wuchs die armenische Bevölkerung von 1885 bis 1914 von 59.000 auf 179.000 Einwohner, während Juden aus Russland in Edirne, Istanbul und Ankara und ebenfalls im Osten Aufnahme fanden. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten etwa eine halbe Million Kaukasusflüchtlinge, vor allem Tscherkessen, die verlassenen Gebiete Anatoliens um Kayseri und an der Schwarzmeerküste besiedelt, die Türken aus dem Osten waren weiter westlich gezogen, in die verlassenen Regionen waren Kurden nachgerückt. 1913 hatten im Osmanischen Reich auf dem Gebiet der heutigen Türkei noch 1.834.900 Armenier gelebt, zur Zeit der Türkischen Republik 1923 waren es noch 300.000, heute sind es nur noch etwa 60.000. In den vorwiegend von Armeniern bewohnten Städten wie Van, Urfa oder Malatya sind heute überwiegend Kurden beheimatet.
    Über eine Million Muslime verließen den Balkan Richtung Anatolien, während Hunderttausende Griechen ihre angestammtenWohnorte an der Schwarzmeerküste, wo sie seit der Antike gesiedelt hatten, verloren. Zwischen 1913 und 1922 kam es aufgrund des zwischen den Türken und Griechen vereinbarten »Bevölkerungsaustauschs« zum Exodus von 1,5 Millionen Griechen aus der Ägäis-Region, während 500.000 Muslime aus Griechenland in die Türkei flüchteten; etwa zwei Millionen Menschen kamen im Ersten Weltkrieg und im nachfolgenden Kampf um die Unabhängigkeit um. In den entvölkerten Gebieten wurden wiederum die zum Teil noch als Halbnomaden in Anatolien lebenden Türken, Kurden und Sinti und die aus Griechenland geflohenen Türken angesiedelt.
    In fremden Betten
    »Mein Vater flüchtete mit einem Schiff aus Saloniki nach Istanbul. Von dort kam er nach Bursa und wurde in einer Medrese, einer Koranschule, untergebracht. Der Onkel meiner Mutter war ein Kadi, ein Richter aus der Nähe von Saloniki. Die Familie war wohlhabend, dennoch wurden die meisten Verwandten von marodierenden Christen umgebracht, So floh er zusammen mit meiner Mutter auf dem gleichen Weg wie mein Vater. Meine Mutter erzählte mir oft von ihrer Flucht, wie sie auf dem überfüllten Schiff sich drängen mussten. Die Bauern wollten ihre Tiere mitnehmen, aber viele der Ziegen und Schafe rissen sich von den Stricken los oder fielen beim Verladen ins Wasser und schwammen an Land, wo sie von den Griechen einkassiert wurden.« Seine Familie – so erzählt mir der Herr von mehr als achtzig Jahren, der in Deutschland lebt – bekam in Bursa ein von Griechen verlassenes Haus mit Garten zugewiesen. »So wie die Pontos-Griechen in Saloniki vielleicht in unseren Betten schliefen, in unserem Garten saßen, kochten meine Eltern nun in ihrer Küche.«
    Auch aus meiner eigenen Familie lebt eigentlich niemand mehr dort, wo er geboren wurde. Meine Eltern gingen 1946 von Anatolien nach Istanbul, dann nach Deutschland, meine Geschwister lebten erst in der Türkei, dann in Deutschland und jetzt wieder in der Türkei, wenngleich an anderen Orten als früher. Die Onkel und Tanten zogen von Pinarbashe entweder nach Kayseri, Ankara oder Antalya, die Militärs und die Polizisten in der Familie werden berufsbedingt alle drei Jahre versetzt, selbst die Bauern blieben nicht auf ihrem Land, sondern zogen in die Stadt.

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