Bittersüße Heimat.
heute noch mit Bewunderung. Selbst in den kleinsten Orten der Türkei bin ich noch auf Spuren dieser alten Kulturen gestoßen. Wo man auf touristisches Interesse setzt, kümmert man sich, meist mit internationaler Hilfe, um die Bergung und den Erhalt dieses Vermächtnisses; dort finden Ausgrabungen unter den wachsamen Augen des Kulturministeriums statt. Überall jedoch, wo diese Zeugen alter Kultur wirtschaftlichen Entwicklungen im Wege sind, wie zum Beispiel bei den Staudammprojekten an Euphrat und Tigris oder in der Nähe von Pergamon, scheinen die »alten Steine« eher lästig zu sein. Wenn man mit den Menschen in Anatolien spricht, stellt man fest, dass sie mit diesen Zeugen der vorislamischen oder christlichen Zeit, auf deren geistigem Erbe Europa aufbaut, nichts anfangen können – sie sind bedeutungslos für sie.
Die Ruinen des klassischen Erbes der Antike sind heute bestenfalls Kulisse, aber keine Bausteine einer eigenen kulturellen Identität geworden. Auch seine geistigen Werte sind verkümmert, wenn nicht gar erloschen, getilgt. Die muslimischen Eroberer haben in der Zeit ihrer fast fünfhundert Jahre währenden Herrschaft alles dafür getan, dass dieses Erbe in Vergessenheit geriet. Sie ließen die Köpfe der Skulpturen verschwinden, weil sie kein von Menschen gemachtes Bildnis ertrugen. Auch die Bilder der Vergangenheit ließen sie übermalen.
Vielen Orten ist es so ergangen, wie der etwa 15.000 Einwohner zählenden Stadt Iznik, die in der Nähe des Marmara-Meers und der Stadt Bursa an einem See liegt. Früher trug Iznik den Namen Nicäa und war vor Konstantinopel die erste Hauptstadt des oströmischen Kaiserreichs. Hier wurden seit dem Jahr 325 christliche Konzile abgehalten. Später wurde die Stadt durch die vom Sultan Selim I. angesiedelten Handwerker aus Täbris bekannt, die die schönsten Fayence-Kacheln für die Paläste und Moscheen der Sultane fertigten. Nicäa wurde 1331 von den Osmanen unter Orhan I., dem Sohn von Osman I., erobert.
Helmuth von Moltke, Mitglied des Generalstabs der preußischen Armee, reiste ab 1835, zunächst als Privatier, dann als Instrukteur der türkischen Streitkräfte, durch die Türkei und notierte im Juni 1836 nach einem Besuch in Iznik: »Mit Sonnenuntergang erreichten wir einen großen ausgedehnten See. Die riesenhaften Mauern und Türme am entgegengesetzten Ende schützten einst eine mächtige Stadt, um die man sich in den Kreuzzügen gestritten hatte. Heute umschließen sie nur ein paar elende Hütten und Schutthaufen, die vor Jahrhunderten Nicäa waren. Dort war es, wo eine Versammlung von hundert gelehrten Bischöfen das Mysterium der Dreieinigkeit erklärte und beschloss, diejenigen zu verbrennen, die ihrer Meinung nicht waren. Was würden die stolzen Prälaten dazu gesagt haben, hätte man ihnen prophezeit, dass ihre reiche, mächtige Stadt ein Trümmerhaufen, ihre Kathedrale die Ruine einer türkischen Moschee werden sollte, dass das Reich der griechischen Kaiser erlöschen, dass nicht nur ihre Auslegung, sondern selbst ihr Glaube in diesen Ländern verschwinden … würde!«
Die Muslime, schreibt Moltke weiter, »haben all die Malerei der griechischen Kirche weiß übertüncht. In der Kathedrale, wo das berühmte Concilium gehalten wurde, schimmert an der Stelle des Hochaltars noch heute durch den weißen Anstrich die stolze Verheißung I.H.S., in hoc signo [in diesem Zeichen], aber quer darüber steht die Grundlehre des Islam geschrieben: ›Es ist kein Gott, als Gott‹«. 60
› Hinweis
Männer des Schwertes
Die Osmanen waren Krieger, »Männer des Schwertes«, die im Namen ihres Gottes unterwegs waren. Sie sahen sich als religiöse Nachfolger Mohammeds, der von Mekka und Medina aus seine neue Weltordnung mit dem Schwert verbreitet hatte. An der großen Geschichte, die vor ihrer Zeit lag, in der Armenier, Juden, Römer und Griechen, neben vielen anderen Völkern, das Land kultiviert und uns geistige Erbschaften wie Homers Dichtungen hinterlassen hatten, waren sie nicht interessiert.
Die von ihnen eroberten Gebiete gingen in den Besitz der muslimischen Umma über, der Gemeinschaft der Gläubigen, und wurden unter die Steuerverwaltung von Gouverneuren gestellt, die Bauern zu Tribut verpflichtet. Konvertierten sie zum Islam, konnten sie gegen geringere Abgaben als die Ungläubigen, die dhimmis , auf dem Land wirtschaften oder sich als Krieger dem Djihad anschließen. Wer das Bekenntnis nicht ableistete, hatte Kopfsteuern zu entrichten. Die Bauern
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