Bittersüße Heimat.
sie schüchtern auf Türkisch. Der Südosten der Türkei sei ein beliebtes Urlaubsziel in den arabischen Ländern. Sie selbst stamme aus Urfa; zum Ramadan hätten sie ihre Eltern besucht. Es macht den Eindruck, als halte sie sich an ihrer Tochter fest. Ihr Mann sieht die beiden die ganze Zeit mit unverhohlenem Besitzerstolz an und freut sich, wie das Kind versucht, sich nach der Musik zu bewegen.
Urfa-Lieder
Die Kapelle war offensichtlich auf eine größere Gesellschaft eingestellt. Trommel, Flöte, Leier und Saz, verstärkt von einer leistungsfähigen Lautsprecheranlage, lassen die Urfa-Lieder erklingen, die alle von Kummer und Sehnsucht handeln. Die Musiker spielen, als ginge es um ihr Leben. Ich versuche, inmitten des Höllenlärms mit anderen Gästen ins Gespräch zu kommen. Vier elegant gekleidete Männer zwischen vierzig und fünfzig Jahren sitzen in Begleitung von auffällig blonden, auffällig jungen Frauen neben uns, die sich ununterbrochen gegenseitig fotografieren und die Musik mitihren Handys aufnehmen. Sie kommen aus Antakya und wollen sich »amüsieren«, wie einer mir mit einem Augenzwinkern verrät.
Nach dem Mocca müssen auch wir mit den Gästen und dem Küchenpersonal einige Runden halay , den Rundtanz, drehen. Die Fremden aus Antakya wollen sich, so kündigen sie an, noch die Zimmer auf der Galerie »ansehen«. Als die Blondies das hören, kreischen sie vor Vergnügen. Wir werden tanzend bis zum großen Hoftor begleitet, wo der Taxifahrer bereits auf uns wartet.
Das dunkle Urfa
Diese Stadt kannte viele Herrscher. Die Aramäer nannten sie Urhoy, die Seleukiden Antiochia, die Römer mal Aurelia Antonia, dann Opellia Macriana oder Alexandria, die Christen Edessa, dann hieß sie Urfa, bis die türkische Regierung sie 1983 Sanliurfa, »ruhmreiches Urfa«, taufte, um ihren Widerstand gegen die französische Besatzung von 1920 bis 1922 zu würdigen. Für die Armenier und andere Christen, die den von den Türken angerichteten Massakern und Deportationen von 1895 und 1915 zum Opfer fielen, ist der Name ein Hohn – für sie ist Urfa unauflöslich mit dem Begriff »Holocaust« verbunden.
Bereits im zweiten Jahrhundert lebten in Urfa die ersten Christen. Bis zum sechsten Jahrhundert war das damalige Edessa christlich. Der Kreuzfahrer Balduin von Boulogne, vom Papst aufgerufen, in einem Kreuzzug den von Muslimen bedrängten Christen zu Hilfe zu eilen, beherrschte sie ab 1098 für zwei Jahre. 1144 wurde die Stadt von den Arabern erobert und völlig zerstört. 1637 wurde Edessa in das Osmanische Reich eingegliedert und in Urfa umbenannt.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts stellten die Assyrer, Aramäer und Armenier die größten Gruppen in der Bevölkerung der Stadt. Ende Dezember 1895 erreichten die gegen die Armenier gerichteten Pogrome, die von Istanbul ausgingen und ein Vorläufer der ethnischen Säuberungen durch die Jungtürken waren, auch Urfa. Einheimische kurdische Stammesführer plünderten, zusammen mit den Truppen des Sultans Abdul Hamid II. und seiner Spezialeinheit »Hamidiye«, innerhalb weniger Tage 2400 Häuser und brachten über zehntausend Armenier und andere Christen um. Entsetzlicher Höhepunkt war die Brandschatzung der armenischen Kathedrale, in die sich 3000 Armenier mit ihren Frauen und Kindern geflüchtet hatten. Man verbarrikadierte alle Eingänge und steckte die Kirche in Brand. Leider schickte Gott nicht, wie einst bei Abraham, einen Sturm, um die Armenier aus dem Feuer zu retten. Wer nicht verbrannte, erstickte qualvoll am Qualm von dem frischen grünen Pfeffer, den man körbeweise in die Flammen warf. 59
› Hinweis Die in Urfa anwesende amerikanische Missionarin Corinna Shattuck gebrauchte für die Tat erstmals den Begriff »Holocaust«, der dem Griechischen holokaotuma entlehnt ist und in einer englischen Bibelübersetzung für »Brandopfer« steht. Tagelang beherrschte der Mob die Stadt; kein einziger der Mörder wurde bis heute zur Rechenschaft gezogen.
Wie aus Nicäa Iznik wurde
Heute sind die fast 400.000 Bewohner Urfas mehrheitlich Kurden, Türken und Araber. Die Stadt ist durch und durch muslimisch, vom abrahamitischen Gründungsmythos der drei Weltreligionen, von der großen aramäischen, armenischen, christlichen Tradition ist außer ein paar stummen Zeugen aus Stein nichts mehr geblieben. Erst kürzlich fanden Archäologen in der Nähe von Urfa einen der ältesten Tempel der Menschheit aus der Zeit von vor 11.000 Jahren. Solche steinernen Überreste erfüllen uns
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