Bittersüße Heimat.
meiner Cousinen erzählt, dass vor einigen Jahren bei Arbeiten auf einem Feld im »Weiten Tal« ein Hügel entdeckt wurde, unter dem viele Menschen begraben worden waren, dann sind das buchstäblich die Leichen in der türkischen Geschichte, von denen man im offiziellen Selbstbild nichts wissen möchte.
»Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?«, fragte Hitler am 22. August 1939, als er vor Wehrmachtsoffizieren erklärte, dass der kommende Krieg die gnadenlose Entvölkerung Polens bedeute: »Polen wird entvölkert und mit Deutschen besiedelt.« 64
› Hinweis Er setzte auf das Vergessen und darauf, dass die Sieger die Geschichte schreiben.
»Wir sind mit der Geschichte im Reinen«
Am 13. April 2005 diskutierte das türkische Parlament eine Frage von nationaler Bedeutung: Es ging darum, eine »aktivere türkische Politik gegen die ungerechtfertigten Völkermordvorwürfe« zu formulieren. Damit war die Deportation und Ermordung von mehr als einer Million armenischer Bürger 1915 gemeint. Eine kritische Auseinandersetzung mit den historischen Umständen, die zu dem Völkermord geführt hatten, war vom Parlament leider nicht zu erwarten. Der regierenden AK P ebenso wie der oppositionellen CH P ging es einzig darum, Stellung zu beziehen – denn internationaler Druck vor allem aus Europa, die schlechten Beziehungen zum armenischen Nachbarn, die nicht unter dem Deckel zu haltende Diskussion unter Wissenschaftlern hatten die Gefahr heraufbeschworen, dass die Türken ihr »Ansehen«, ihr »Gesicht« verlieren könnten.
Hauptredner der Debatte war seinerzeit der damalige Außenminister und inzwischen zum Präsidenten gewählte AKP – Politiker Abdullah Gül, der beschönigend von »armenischen Umsiedlungen« und von dem »Leid« sprach, das von jenen »benutzt« werde, die an »Rachegefühle« appellieren und »gegenüber unserem Land Vorurteile und Hass« wecken wollten. 65
› Hinweis Kein Satz des Bedauerns für die armenischen Opfer des Genozids – ein Wort, das einem türkischen Politiker ohnehin nicht über die Lippen kommen würde; Güls ganzes Mitgefühl galt dem Schicksal der osmanischen Muslime, die in dieser Zeit bei militärischen Aktionen der Besatzungsmächte ums Leben kamen. Ihnen sei viel zu wenig Beachtung geschenkt worden, monierte er und spielte so die Opfer gegeneinander aus. Aber, bekräftigte er – darin völlig einig mit der Opposition wie auch mit der rechts-nationalistischen MH P –, die türkische Nation werde aus diesen Auseinandersetzungen »in Einigkeit und Geschlossenheit« hervorgehen, »davon bin ich fest überzeugt«. 66
› Hinweis Ministerpräsident Tayyip Erdogan bestätigte das. Im Oktober 2005 behauptete er in seinem Vortrag an der London School of Economics, die Geschichte der Türkei sei »niemals eine Geschichte des Völkermords« gewesen. 67
› Hinweis Gül formulierte in seiner Rede vor den Abgeordneten apodiktisch: »Die Türkei ist mit ihrer Geschichte im Reinen.« 68
› Hinweis Ein Satz, der die selbstherrliche Geschichtsvergessenheit türkischer Politik auf den Punkt bringt.
Nur der Sieg zählt
Ganz unvertraut ist diese Verweigerung einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch in Deutschland nicht. Erst spät hat die Bundesrepublik gelernt, sich mit der Judenvernichtung auseinanderzusetzen. Ich erinnere mich an die 1960er Jahre, als ich mit meinen Geschwistern hierherkam. Das Land war international anerkannt, war Fußballweltmeister geworden und sah sich selbst als erfolgreiche und wirtschaftlich potente Nation. 1967 erschien ein Buch, das heftige politische Reaktionen hervorrief und zeigte, wie brüchig diese auf einer »Bewusstseinszensur« 69
› Hinweis basierende Selbstgewissheit war: »Die Unfähigkeit zu trauern« von den beiden Psychoanalytikern Alexander und Margarete Mitscherlich. Ein Buch, das von der Weigerung der Kriegsgeneration handelte, sich der Verantwortung für die im »Dritten Reich« begangenen Verbrechen zu stellen – in den Augen der beiden Autoren eine notwendige Voraussetzung, um sich von der autoritären Fixierung auf den Diktator Adolf Hitler lösen und »Trauerarbeit« leisten zu können. In der Geschichte der Bundesrepublik steht diese »Erinnerungsarbeit« bis heute immer wieder auf der Tagesordnung – noch 1997 führte die »Wehrmachtsausstellung« des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu einem erneuten Aufflammen erregter Reaktionen, weil sie die Mitschuld der deutschen Wehrmacht an den deutschen
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