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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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Schon deren Eltern waren an anderen Orten als sie geboren. Der eine Teil der Familie wanderte von Erzurum nach Kayseri, der andere Teil kam aus dem Kaukasus, machte für eine Zeit im »Weiten Tal« um Pinarbashe Station, um dann weiterzuziehen. Dieses aus der nomadischen Tradition erwachsene Unstete, nicht mit der Erde Verwurzelte, besitzt eine lange Tradition in der Geschichte des Landes und hat sich tief in die Mentalität der Menschen eingegraben.
    Die Gesamtbevölkerung der heutigen Türkei betrug Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 12 Millionen (heute sind es 70 Millionen). Etwa ein Sechstel der Bevölkerung, vorwiegend Nichtmuslime wie Griechen und Armenier, wurden durch Krieg und ethnische Säuberungen vertrieben oder getötet. Viele Muslime zogen vom Balkan in das Gebiet um das Marmarameer. Gleichzeitig kam es innerhalb der Türkei zu großen Bewegungen vom Osten in Richtung Westen. Ein großer Teil der türkischen Bevölkerung hat innerhalb der letzten hundert Jahre den ursprünglichen Wohnort verlassen und sich woanders angesiedelt. Die Neuankömmlinge mussten erst einmal Fuß fassen, sich an veränderte Gegebenheiten, oft an neue Tätigkeiten, Sitten und Gebräuche gewöhnen. Auch gab es sicherlich so etwas wie ein kollektives »Verlusttrauma« durch den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Gerade in Zeiten der Verunsicherung und der Angst neigen Menschen dazu, sich an die ihnen bekannten Sozialstrukturen zu klammern, auf die »Binnenwelt« zu orientieren und Halt in den überkommenen Clan- und Stammesstrukturen zu suchen. Damit behielten die an Religion und Tradition ausgerichteten Normen ihre Macht über die entwurzelten Massen der neu entstandenen Türkei.

Anatolien soll türkisch werden
    Für die Herrschaftsausübung der Osmanen spielten ethnische und religiöse Kriterien nicht die entscheidende Rolle. Türken waren als Muslime zwar bessergestellt als Nichtmuslime, gehörten aber nicht per se zur Elite. Ein türkisches Volk als kulturelle,sprachliche, ethnische Gemeinschaft gab es nicht. Die Türkei als Nationalstaat, wie wir sie heute kennen, war eine »Erfindung« der Jungtürken zum Ende des 19. Jahrhunderts.
    Begonnen hatten die Jungtürken des konspirativen »Komitees für Freiheit und Fortschritt« als liberale Bewegung der bürgerlichen Aufsteiger im 19. Jahrhundert, zu denen Militärs und Vertreter der alten Elite stießen. Ihr Ziel war es, das Osmanische Reich nach westlichem Vorbild zu modernisieren. Die Reformpolitik, die zunächst Sympathien sowohl bei den nach Unabhängigkeit strebenden armenischen Intellektuellen als auch in Europa weckte, wurde spätestens mit dem Militärputsch des »Triumvirats« 1913 unter Enver Pascha, Talaat Pascha und Cemal Pascha einer Diktatur mit stark nationalistischen Zügen geopfert. Während Mustafa Kemal (seit 1934 »Atatürk«, »Vater der Türken«, genannt) im Ersten Weltkrieg bei der Abwehr der Alliierten an den Dardanellen militärische Meriten erwarb, befasste sich das »Komitee für Freiheit und Fortschritt« im Inneren mit den Balkanflüchtlingen und nahm die angesichts des Kriegsgeschehens als »unzuverlässig« geltenden Armenier ins Visier.
    Die Zusammensetzung der Bevölkerung hatte sich in wenigen Jahren durch Gebietsverluste des Osmanischen Reiches und Wanderungsbewegungen dramatisch verändert. Plötzlich waren Christen eine Minderheit in Anatolien geworden, die Mehrheit stellten die anatolischen Muslime. Wenn die »neue« Türkei vor den europäischen Alliierten gerettet werden sollte, mussten, so die Propaganda des Triumvirats, die loyalen von den feindlichen Bevölkerungsteilen getrennt werden, um dem »Türkentum« zum Durchbruch zu verhelfen.
    Assimilierung und Vertreibung
    Der türkische Historiker Taner Akcam kam nach Durchsicht der osmanischen Dokumente aus dem Archiv des damaligen Ministerpräsidenten zu dem Ergebnis, dass die türkische Bevölkerungspolitik ab 1913 vor allem zwei Ziele hatte: zum einen die Durchmischung der türkischen Bevölkerung mit den muslimischen Flüchtlingen aus Griechenland, mit den Kurden und Arabern, um diese Neuankömmlinge besser assimilieren zu können; zum ande ren, die christliche Bevölkerung, hauptsächlich Griechen, Armenier, Assyrer, aus Anatolien zu entfernen. 62
› Hinweis
    Nichttürkische und nichtmuslimische Siedlungen sollten, besonders an strategischen Punkten, beseitigt werden, um der Gefahr der Kollaboration mit den alliierten Invasionstruppen vorzubeugen. Weiter verfügte Enver Pascha

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