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Bittersüße Heimat.

Bittersüße Heimat.

Titel: Bittersüße Heimat. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Necla Kelek
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1913 in einem Telegramm, dass »alle Namen von Landkreisen, Städten, Dörfern, Bergen, Flüssen …, die nicht-islamischen Ursprungs sind, ins Türkische« zu übertragen seien. 63
› Hinweis Die Umsetzung dieser Pläne begann bereits ab 1913, noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Griechische und armenische Soldaten in der Armee wurden entwaffnet, in Arbeitsbataillone gesteckt und auf »Todesmärschen« durch Hunger und Kälte systematisch dezimiert.
    Die Umsiedlungen erfolgten in rabiater Hast, in manchen Landkreisen dauerten sie nicht länger als eine Woche. Zur Vorbereitung wurden 1914 von jeder Provinz Karten erstellt, auf denen die ethnische Zugehörigkeit der Bevölkerung verzeichnet war. Dabei wurde nicht nur die Volkszugehörigkeit erfragt, sondern auch die Vermögenssituation, der Bildungsstand und die Beziehungen zu anderen Volksgruppen. Wo diese Daten nicht vorlagen, wurden die Hodschas, Rabbis und Priester ultimativ aufgefordert, sie zu beschaffen. Ziel der auf dieser Basis verfügten Umsiedlungen sollte es sein, in keiner Provinz mehr als fünf bis zehn Prozent Nichttürken ansässig werden zu lassen. Noch 1916 wurden in den – damals noch zum Osmanischen Reich gehörenden – Lagern in Syrien und im Irak die deportierten Armenier umgebracht: Ihre Zahl überstieg die Höchstgrenze von zehn Prozent der ansässigen Bevölkerung. Selbst die osmanischen Dokumente verzeichnen über eine Million Opfer. Die immer wieder von türkischen Politikern wiederholte Behauptung, der Tod der Armenier sei im Wesentlichen den kriegsmäßig bedingten Umsiedlungen geschuldet, steht auf tönernen Füßen. In gleicher Zahl, wie Armenier aus ihren Häusern, Dörfern und Städten vertrieben wurden, hat man Araber, Kurden, Türken in Anatolien umgesiedelt – von Opfern unter diesen Volksgruppen ist nichts bekannt.
    Auch eine weitere, bis heute in der Türkei besonders in den Schul- und Geschichtsbüchern kolportierte Legende kann auf Grundlage der Dokumente aus dem Archiv des Ministerpräsidenten widerlegt werden – nämlich dass die Armenier für den Verlust ihres Vermögens und ihrer Habe entschädigt wurden. Es gibt nicht eine Quittung über verkauftes Eigentum, nicht einen Beleg, dass ein Armenier an dem Ort, wohin er deportiert wurde, ein Stück Land erhalten hätte, wohl aber jede Menge Belege für die Übertragung von Häusern und Grundstücken an Muslime. Das Militär und die Verwaltung requirierten das gesamte Besitztum der Armenier und verschenkten oder verkauften es zu Schleuderpreisen – die Armenier hingegen mussten selbst noch für ihre Deportation zahlen.
    Die Dokumente in den Archiven des Ministerpräsidenten belegen, dass es bei dieser Aktion um die systematische Auslöschung des armenischen Volkes ging. Mehrere Telegramme von Talaat Pascha enthalten die unmissverständliche Anweisung, armenische Kinder von ihren Familien zu trennen, in Waisenhäuser oder zu muslimischen Familien zu geben und junge Frauen möglichst mit muslimischen Männern zu verheiraten. Die Rache der Überlebenden bekam später auch mein Onkel Enischte zu spüren, als man versuchte, ihn als kleinen Jungen in Istanbul »einzukassieren«.
    Zeitgleich mit der Vernichtung der christlichen Armenier versuchte man, die Stammesstrukturen der Kurden zu zerschlagen, indem man über 20.000 Kurden in den Westen umsiedelte, die Mitglieder eines Clans oder einer Großfamilie an unterschiedliche Orte brachte – was aber, wie wir heute wissen, gründlich misslang. Die Kurden kehrten zurück und hatten das Land für sich, bis sie wieder vertrieben wurden, zuletzt zwischen 1994 und 2000, als über 2500 Dörfer zwangsgeräumt wurden und über drei Millionen Kurden flüchteten, nicht zuletzt nach Istanbul. Das Militär wiederholte an den Kurden, was schon den Armeniern zum Verhängnis wurde: die Politik der ethnischen Vertreibung.
    Während ich mich mit diesen schrecklichen Ereignissen beschäftige, kommen mir die Erzählungen meiner Großmutter Emmana wieder in den Sinn, die als junge Frau beobachtete, wie Soldaten armenische Nachbarn auf der Straße erstachen und Kinder in Säcke stopften, um sie im Fluss zu ertränken. Mir wird jetzt auch klar, wie ein Teil meiner Familie, die aus dem Kaukasus oder Erzurum stammte und Pferdezucht betrieb, so schnell zu Wohlstand gekommen ist. Ihnen waren, wie anderen in die entvölkerten Ortedes »Weiten Tals« Umgesiedelten, das Land und die Häuser der vormaligen Besitzer übergeben worden. Und wenn eine

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