Bitterzart
Flüssigkeit.«
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Es tut mir wirklich leid. Ich habe so viel im Kopf.«
»Du bist ein gutes Mädchen, und ich nehme deine Entschuldigung an«, sagte Imogen.
»Ich bin so müde«, brachte ich hervor.
»Dann schlaf, mein Kind.« Sie strich mit ihrer kühlen, sauberen Hand über mein Haar. Es fühlte sich angenehm und tröstlich an. Vielleicht hatte Nana in ihren letzten Minuten Ähnliches erlebt. Vielleicht war ihr Tod doch nicht so schlimm gewesen.
Ich schloss die Augen, dann schlug ich sie wieder auf.
»Wusstest du, dass Natty hochbegabt ist?«
»Ich habe es vermutet«, gab Imogen zurück.
Ich wollte mich kratzen, doch stattdessen sprach ich das furchtbare Geheimnis aus, das ich seit dem Gespräch mit Mr. Kipling mit mir herumtrug. »Ich glaube, ich muss mit meinem Freund Schluss machen.« Jetzt war es heraus.
»Warum? Er kommt mir sehr nett vor.«
»Ist er auch. Er ist der netteste Junge, den ich je kennengelernt habe«, erklärte ich. »Aber sein Vater hat mich vor einiger Zeit gewarnt, dass meine Angelegenheiten zu seinen werden würden, wenn ich mit Win ginge. Und jetzt, da Nana tot ist, habe ich Angst, dass sein Vater versuchen wird, sich in unser Leben einzumischen. Du und ich, wir wissen beide, dass Leo niemals als Vormund anerkannt würde, wenn wir vor Gericht müssten.« Ich hustete. Mein Hals war unglaublich trocken. Imogen schob mir wieder den Strohhalm in den Mund.
»Die einzige Möglichkeit, Natty, Leo und mich nicht in Gefahr zu bringen, ist, wenn wir bis zu meinem achtzehnten Geburtstag so gut wie unsichtbar bleiben.«
»Hm«, machte Imogen. Sie reichte mir erneut den Strohhalm. »Trink!«
Ich gehorchte. »Und wenn ich keine Beziehung mit seinem Sohn habe, wird der Vater keinen Anlass sehen, sich mit mir abzugeben. Mit uns.«
»Aha«, machte Imogen. Sie stellte das Glas auf den Nachttisch, offenbar zufrieden mit der Menge, die ich getrunken hatte.
Es begann wieder furchtbar zu jucken. Ich versuchte, mich am Arm zu kratzen. Imogen drückte ihn hinunter. »Dies wird dir helfen«, sagte sie. Sie nahm eine Tube vom Nachttisch und rieb Creme auf die Pusteln, die auf meiner Haut gesprossen waren. »Du kannst doch nicht wissen, ob der Vater wirklich tätig werden wird«, sagte sie. »Die meisten Eltern möchten vor allen Dingen, dass ihre Kinder glücklich sind.«
Ich dachte an den Tag, als Charles Delacroix mich von Liberty nach Hause gebracht hatte. Ich kannte mindestens einen Vater, der alles tun würde, um sich durchzusetzen, ungeachtet des Wohls seines Kindes. Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß natürlich nicht mit Sicherheit, was der Staatsanwalt tun wird, aber ich glaube, dass die Beziehung zu seinem Sohn uns alle gefährdet. Und sosehr ich …« – Liebte ich Win? Liebte ich ihn wirklich? Ja, ich glaubte schon – »… sosehr ich Win auch liebe, Natty und Leo liebe ich mehr. Ich kann sie nicht wegen einer dummen Highschool-Liebe in Gefahr bringen. Wenn Nana noch leben würde … Aber ich kann es einfach nicht riskieren.« Ich wusste, was ich zu tun hatte. Es würde nicht leicht werden, aber ich würde es durchziehen. Ich wollte die Handschuhe abstreifen, doch Imogen hielt mich auf, indem sie meine Hände in ihre nahm.
»Vergiss nicht: Highschool-Lieben sind nicht immer nur dumm, Annie. Jetzt im Moment kannst du sowieso nichts tun. Deine Krankheit gibt dir ein paar Tage Zeit zum Nachdenken.«
»Mir fehlt Nana unheimlich«, sagte ich. »Auch wenn die meisten in ihr nur eine bettlägerige alte Frau gesehen haben, fehlt sie mir unglaublich.« Alles juckte, ich fühlte mich schwach, meine Augen begannen wieder zu tränen. Es fehlte mir, bestimmte Themen mit Nana zu besprechen. Mir fehlte das Gespräch mit ihr. Es war unvorstellbar, dass ich ihre Stimme nie wieder hören würde. »Sie fehlt mir einfach«, sagte ich.
»Versuch, nicht so viel zu sprechen. Mir fehlt sie auch«, sagte Imogen. »Soll ich dir ein bisschen vorlesen? Deiner Großmutter hat es immer beim Einschlafen geholfen. Ich habe eins meiner Lieblingsbücher dabei.« Sie hielt es hoch, damit ich den Titel lesen konnte: Jane Eyre .
»Geht’s darin nicht um ein Waisenkind?«, fragte ich. Diese Sorte Bücher hasste ich.
»Geschichten über Waisenkinder kann man nicht aus dem Weg gehen. Jede Geschichte handelt von Waisen. Das ganze Leben handelt von Waisen. Wir alle werden früher oder später zu Waisenkindern.«
»In meinem Fall eher früher.«
»Ja, in deinem Fall früher. Aber du bist
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