Bitterzart
Wichtiger noch: Sie war immer nett zu Leo gewesen. Ich hatte das Gefühl, ihr etwas zu schulden.
Als sie sich meldete, klang sie hörbar gestresst. »Ah, Anya«, sagte sie. »Sie haben es wahrscheinlich schon gehört. Der Mann vom Gesundheitsamt hatte uns richtig auf dem Kieker!«
Ich fragte Dr. Pikarski nach dem Namen des Beamten. »Wendel Yoric«, sagte sie, und ich bat sie, mir den Namen zu buchstabieren. Meine Familie hatte immer noch einige Freunde in verschiedenen Ämtern, und ich hoffte, den Vorgang ein wenig beschleunigen zu können.
Nachdem ich aufgelegt hatte, rief ich den Anwalt unserer Familie an, Mr. Kipling. (Zwei Anrufe an einem Tag!) Mr. Kipling war schon vor meiner Geburt der Anwalt der Familie gewesen. Mein Vater hatte mir gesagt, dass ich mich immer auf ihn verlassen könnte, und das hatte er von so gut wie niemandem sonst behauptet.
»Du möchtest also, dass ich diesem Mr. Yoric einen Scheck zukommen lasse?«, fragte Mr. Kipling, nachdem ich die Situation erklärt hatte.
»Ja«, sagte ich. »Oder meinetwegen einen Briefumschlag mit Geld drin.«
»Natürlich, Anya. Das war nur eine Art Fachausdruck. Ich habe nicht die Absicht, irgendjemandem im Gesundheitsamt einen Scheck auszustellen. Im Übrigen könnte es ein paar Wochen dauern, um das zu regeln«, sagte Mr. Kipling. »Also halt die Ohren steif, Anya. Und sag Leo, er soll auch die Ohren steif halten.«
»Danke«, erwiderte ich.
»Wie war der erste Schultag?«, erkundigte sich Mr. Kipling.
Ich stöhnte.
»So gut?«
»Fragen Sie nicht«, sagte ich. »Ich hab gleich am ersten Tag Ärger bekommen, aber es war nicht meine Schuld.«
»Klingt ganz nach Leo. Leo senior, meine ich.« Mr. Kipling war mit Daddy zusammen zur Highschool gegangen. »Wie geht es Galina?«
»Sie hat gute und schlechte Tage«, erklärte ich. »Wir kommen schon zurecht.«
»Dein Vater wäre stolz auf dich, Annie.«
Gerade wollte ich mich verabschieden, da fiel mir ein, Mr. Kipling zu fragen, was er über Jakov Piroschki wusste.
»Kleines Licht, das gerne eine große Leuchte wäre. Wird aber nie so weit kommen. Niemand in der Organisation nimmt ihn ernst, schon gar nicht sein Vater. Und da seine Mutter nicht, nun ja, da sie nicht Yuris Frau war, haftet an Jacks immer noch die Frage, ob er überhaupt ein echter Balanchine ist. Um ehrlich zu sein, der Junge tut mir leid.« Mit Yuri meinte er Yuri Balanchine, Daddys Halbbruder und damit mein Onkel. Er war nach der Ermordung meines Vaters das Familienoberhaupt geworden. Mr. Kipling wechselte das Thema. »Hast du dir schon überlegt, an welchen Colleges du dich bewerben willst?«
Ich seufzte.
»Mein Angebot steht noch, dich auf deiner Collegetour zu begleiten.«
»Danke, Mr. Kipling. Das werde ich mir merken.« Wenn ich überhaupt so was machte, würde ich wahrscheinlich Leo mitschleppen.
»Wäre mir ein Vergnügen, Anya.«
Ich legte auf. Wenn ich mit Mr. Kipling gesprochen hatte, fühlte ich mich anschließend immer weniger einsam und gleichzeitig einsamer als zuvor. Manchmal malte ich mir aus, Mr. Kipling sei mein Vater. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, einen Vater zu haben, der einen angesehenen Beruf wie Rechtsanwalt hatte. Wie es wäre, einen Vater zu haben, der mit einem die Colleges abklapperte. Ein Vater, der noch am Leben war. Selbst bevor Daddy starb, hatte ich mir manchmal vorgestellt, ich würde Mr. Kipling bitten, mich zu adoptieren.
Doch Mr. Kipling hatte schon eine Tochter. Sie hieß Grace und studierte Ingenieurswesen.
Schließlich begann ich mit den Hausaufgaben für Geschichte. Da klopfte es an meiner Tür. Es war Leo. »Annie, ich hab Hunger«, sagte er.
Also legte ich meinen Tablet beiseite und kümmerte mich um die Bedürfnisse meiner Familie.
III.
Ich beichte, sinniere über Sterblichkeit & Zähne, locke einen Jungen unter Vortäuschung falscher Tatsachen und enttäusche meinen Bruder
Am Freitagmorgen ging ich vor dem Unterricht zur Beichte.
Falls sich jemand wundert – mein Vater war nicht katholisch. Wie alle im Balanchine-Clan war er in den orthodoxen Glauben hineingeboren worden. Nicht dass er ein gläubiger Mensch gewesen wäre. Außer zu meiner Taufe, der meiner Geschwister und zu Hochzeiten hatte ich ihn nie in der Kirche gesehen. Und auf der Beerdigung meiner Mutter natürlich auch. Auf jeden Fall hatte ich nie gehört, dass er von Gott sprach.
Meine Mutter war katholisch, und sie sprach viel über Gott. Sie behauptete sogar, sie würde mit ihm sprechen. Als sie klein
Weitere Kostenlose Bücher