Bitterzart
war, hatte sie sogar Nonne werden wollen, aber daraus war offensichtlich nichts geworden. Man könnte sogar sagen, sie hatte die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, indem sie den Anführer eines berüchtigten Familienclans heiratete. Ich will damit sagen: Ich war wegen meiner Mutter katholisch. Natürlich wollte ich gerne daran glauben, dass es ein Leben nach dem Tod, Erlösung, ewiges Seelenheil und die Wiedervereinigung mit Gott gab, vielleicht sogar, ganz besonders wichtig, einen vergebenden Gott. Doch als ich mich für die Holy Trinity School entschied (denn ich war es gewesen, die diese Schule für Natty und mich auswählte), dachte ich dabei nicht an Gott. Ich dachte an meine Mutter, und was sie für uns gewollt hätte. Und wenn ich zur Kirche ging und den Weihrauch im kleinen Fässchen des Priesters roch, fühlte ich mich ihr nahe. Wenn meine Knie im Beichtstuhl in den abgescheuerten Samt drückten, wusste ich, dass es meiner Mutter einst genauso ergangen war. Und wenn ich in der Bank saß und zu der in weiches Licht getauchten Pietà aufschaute, konnte ich meine Mutter manchmal fast sehen. Es gab keine andere Situation in meinem Leben, wo das auch nur ansatzweise geschah. Ich wusste, dass ich den Katholizismus aus diesem Grund niemals vollständig ablegen konnte.
Es gab natürlich Dinge, die mich an meinem Glauben störten, aber sie erschienen mir als kleines Opfer im Vergleich dazu, was ich dafür bekam. Was war schon dabei, wenn ich bis zu meiner Hochzeit Jungfrau blieb? Gable hatte nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt.
»Wie lange liegt deine letzte Beichte zurück?«
»Vier Tage«, sagte ich und zählte meine Sünden auf, die denen, die gut aufgepasst haben, schon bekannt sein dürften. Bestechung, Wutausbrüche, ein paar Wiederholungen von Montag und so weiter. Mir wurde wieder eine leichte Buße auferlegt, die ich so schnell erledigte, dass ich es noch rechtzeitig zur ersten Stunde schaffte: Rechtsmedizin II. Das war mein Lieblingsfach, zum einen weil ich es interessant fand, zum anderen weil es der einzige meiner Kurse war, dessen Inhalt in der von Verbrechen bestimmten Welt, in der ich lebte, von Bedeutung war. Außerdem war ich darin besser als in allen anderen Fächern. Dieses Talent hatte ich geerbt. Nachdem meine Mutter ihren Vorsatz aufgegeben hatte, Nonne zu werden, und bevor sie ›den Paten‹ heiratete, war sie Spurensicherungsexpertin beim NYPD. Dadurch hatte sie meinen Vater kennengelernt.
Es war mein zweites Jahr bei Dr. Lau, und sie war bei weitem die beste Lehrerin, die ich je in der Schule gehabt hatte. (Sie war auch die erste rechtsmedizinische Lehrerin meiner Mutter gewesen, und sie war alt, wenn auch nicht so alt wie Nana. Fünfzig oder sechzig vielleicht.) Ich schätzte an Dr. Lau, dass sie keine Rücksicht auf Empfindlichkeiten nahm, wie abartig die Dinge auch waren, mit denen wir uns beschäftigten. Selbst wenn es sich um einen eine Woche alten Hühnerkadaver, um eine Matratze mit seltsamen Flecken oder um eine Monatsbinde handelte. »Das Leben ist nun mal dreckig«, pflegte Dr. Lau zu sagen. »Findet euch damit ab. Wenn ihr Vorurteile habt, werdet ihr niemals alles sehen.«
»Heute und in den kommenden Tagen werdet ihr Zahnärzte sein«, verkündete sie vergnügt. »Ich habe hier sieben Gebisse, ihr seid dreizehn Schüler. Wer möchte den Außenseiter geben?«
Ich war die Einzige, die die Hand hob. Vielleicht klingt es komisch, aber ich arbeitete wirklich gerne allein mit dem Beweisstück.
»Danke, dass Sie sich gemeldet haben, Annie. Beim nächsten Mal bekommen Sie einen Partner.« Sie nickte mir zu und begann dann, Tabletts mit Gebissen darauf zu verteilen. Die Aufgabenstellung war ziemlich einfach: Anhand der Zähne sollten wir ein möglichst genaues Profil des betreffenden Menschen erstellen (z.B.: Hatte er oder sie geraucht?) und auf Grundlage dessen eine mögliche Theorie zur Todesursache entwickeln.
Ich zog ein neues Paar Gummihandschuhe an und begann, das vor mir liegende Gebiss zu betrachten. Es waren kleine, weiße Zähne. Ohne Füllungen. Der rechte Backenzahn war leicht asymmetrisch abgenutzt, so als hätte der Besitzer im Schlaf mit den Zähnen geknirscht. Das Gebiss wirkte zerbrechlich – nicht wie das eines Kindes, aber irgendwie weiblich. Ich notierte meine Ergebnisse in meinem Tablet: wohlhabend, jung, gestresst. Weiblich?
Hätte fast eine Beschreibung meiner selbst sein können.
Dr. Lau legte mir eine Hand auf die Schulter. »Eine gute
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