Bitterzart
»Auf der Arbeit habe ich nicht vor den anderen geheult«, sagte er. »Als ich es erfuhr, wollte ich weinen, aber ich habe mich zusammengerissen.«
»Das war sehr tapfer«, lobte ich.
Ich machte sein Licht aus und schloss die Tür.
Als ich in mein Zimmer kam, hatten Natty und Scarlet mein Bett in Beschlag genommen. Ich hatte keine Lust, meine kleine Schwester rauszuwerfen, deshalb setzte ich mich einfach auf den Boden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Scarlet.
»Das Übliche«, erwiderte ich. »Dramen des Alltags.«
»Also, Natty und ich waren äußerst produktiv«, sagte Scarlet. »Wir haben eine Liste von möglichen Läden erstellt, wo wir mit Win am Freitagabend hingehen könnten.«
»Kommt mir ein bisschen übereilt vor, wo er noch nicht mal zugestimmt hat, mit uns auszugehen«, bemerkte ich.
Scarlet überhörte meinen Einwand und hielt mir ihre Hand entgegen, auf die die Liste geschrieben war:
Little Egypt
The Lion’s Den
The Times
Konzert/Show besuchen
Co…
Die Hälfte von Nr. 5 hatte Scarlet weggeschwitzt. »Was soll das Letzte heißen?«
»Co…« Sie schielte auf ihre Hand. »Comedy. Egal, das war eh ein bisschen lahm.«
»Auf jeden Fall Little Egypt«, sagte ich.
»Das sagst du nur, weil es bei dir in der Nähe ist«, klagte Scarlet.
»Ja, und? Wenn er noch nie da war, ist das doch eine interessante Sache. Außerdem willst du mich doch eh irgendwann loswerden, oder?«
»Stimmt«, sagte sie. »Wenn alles gut läuft.«
Als Scarlet ging, war es fast fünf Uhr, und ich hatte immer noch keinen Gedanken an meine Hausaufgaben verschwendet. Dasselbe galt für Natty. »Los jetzt! Hausaufgaben machen!«, befahl ich.
Natty stand auf. »Du solltest es ihr sagen«, meinte sie.
»Mach dich an deine Hausaufgaben«, wiederholte ich. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und holte meinen Tablet hervor. »Wem soll ich was sagen?«
»Scarlet. Du solltest Scarlet sagen, dass du Win magst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich mag Win gar nicht.«
»Na, dann solltest du ihr sagen, dass er dich mag.«
»Das weißt du doch überhaupt nicht«, gab ich zurück.
»Ich war gestern dabei. Ich hab es gesehen«, sagte Natty.
Ich drehte mich zu meiner kleinen Schwester um. »Scarlet hat ihn zuerst entdeckt.«
»Das ist doch albern.«
»Und ich habe mich gerade von jemandem getrennt, von daher …«
»Ja, ja.« Natty verdrehte die Augen. »Es wird Ärger geben, wenn du es ihr nicht sagst.«
»Woher willst du das wissen? Du bist noch ein Kind«, sagte ich. Ich wusste wirklich nicht, warum ich mich überhaupt auf diese Diskussion einließ.
»Ich weiß so einiges, Annie. Zum Beispiel, dass nicht jeden Tag ein supersüßer Typ vorbeikommt, dem es egal ist, wie wir heißen. Meistens gerätst du an Hohlköpfe wie Gable. Und Win mag dich, was genau genommen ein Wunder ist. Weißt du, du bist nicht gerade ein Mensch, den man besonders schnell ins Herz schließt.«
»Geh! Jetzt! Lernen!«, befahl ich. »Und mach meine Tür hinter dir zu!«
Natty eilte zur Tür, doch bevor sie sie schloss, flüsterte sie: »Du weißt, dass ich recht habe.«
Abgesehen von unseren unterschiedlichen Frisuren, war der größte Unterschied zwischen Natty und mir, dass sie eine Romantikerin und ich eine Realistin war. Romantisch zu sein, konnte ich mir nicht leisten – ich hatte mich um sie und Leo und Nana kümmern müssen, seit ich neun Jahre alt war. Natürlich war ich nicht blind. Ich merkte, dass Win mich mochte, aber ich konnte aufrichtig sagen, dass es mich nicht interessierte. Er kannte mich ja überhaupt nicht; wahrscheinlich hatte er einfach eine Schwäche für Brünette mit C-Körbchen, für meine speziellen Pheromone oder für welches dumme Zeug auch immer, das bei so was den Ausschlag gab. Verliebtsein war völlige Zeitverschwendung. Meine Mutter hatte meinen Vater geliebt, und was hatte es ihr gebracht? Den Tod mit achtunddreißig.
Damit will ich nicht sagen, dass Verliebtsein nicht auch einige ganz nette Aspekte haben kann.
Gerade wollte ich mit den Hausaufgaben beginnen, als mir wieder einfiel, dass ich Dr. Pikarski wegen Leo anrufen wollte.
Ich griff zum Hörer. (Wir benutzten die Telefone nur selten, weil sie so hoch besteuert waren und weil sich in unserer Familie die Überzeugung hielt, dass all unsere Leitungen verwanzt waren.) Ich rief die Tierärztin zu Hause an. Ich mochte sie gerne. Als ich Leo die Stelle in der Klinik besorgte, hatte ich des Öfteren mit ihr gesprochen, und sie war immer sehr offen zu mir gewesen.
Weitere Kostenlose Bücher