Bitterzart
Nachricht: Wir haben einen Partner für Sie gefunden, Annie.«
Es war Win. Mr. Oberschlau war von Rechtsmedizin I in Rechtsmedizin II versetzt worden.
»Dir laufe ich ja anscheinend ständig über den Weg«, sagte er.
»Tja, die Schule ist nicht gerade groß«, erwiderte ich. Ich zeigte ihm meinen Monitor. »Bin noch nicht sehr weit gekommen. Am Anfang denke ich gerne etwas länger nach.«
»Sinnvoll«, bemerkte Win. Er zog Gummihandschuhe über, eine Geste, die ich bei einem Teamkollegen im Labor zu schätzen wusste, dann wies er auf die Hinterseite der unteren Zahnreihe. »Guck mal, der Zahnschmelz da ist beschädigt.«
Ich beugte mich vor. »Oh!« Hinten hatte ich noch gar nicht nachgesehen. »Sie muss sich ständig übergeben haben.«
»Sie muss krank gewesen sein«, sagte Win.
»Oder machte es absichtlich«, fügte ich hinzu.
»Genau.« Win nickte. Er senkte den Kopf, bis er genau auf Höhe des Gebisses war. »Ich glaube, du hast recht, Anya. Unser Mädchen hat sich selbst zum Erbrechen gebracht.«
Ich lächelte ihn an. »Ihre gesamte Lebensgeschichte liegt vor uns, wir müssen sie nur noch lesen.«
Win stimmte mir zu. »Es ist traurig, wenn man drüber nachdenkt, aber gleichzeitig auch wunderschön.«
Das hörte sich schon sonderbar an. Aber ich wusste, was er damit meinte. All diese Zähne hatten einst zu echten, lebendigen Menschen gehört, die gesprochen, gelacht und gegessen, gesungen und geflucht hatten. Sie hatten sich die Zähne geputzt, Zahnseide benutzt und waren gestorben. In Englisch lasen wir Gedichte über den Tod, aber hier, direkt vor mir, lag ein Gedicht über den Tod. Nur dass dieses Gedicht wahrhaftig war. Ich hatte den Tod schon persönlich kennengelernt, und Gedichte hatten mir nicht dabei geholfen. Gedichte waren unwichtig. Beweise nicht.
Es war noch keine acht Uhr. Ziemlich früh für so tiefschürfende Gedanken.
Aber genau das mochte ich so sehr an der Rechtsmedizin.
Ich überlegte, ob Win wohl schon den Tod eines ihm Nahestehenden erlebt hatte.
Es klingelte. Vorsichtig schob Win die Zähne beiseite, klebte einen Streifen davor und schrieb darauf: BALANCHINE, DELACROIX – NICHT BERÜHREN!!! Ich schob meinen Tablet in die Tasche.
»Bis zum Mittagessen!«, sagte er.
»Ja, ich bin dann das Mädchen mit dem Netz auf dem Kopf«, erwiderte ich.
Mein Wahlfach in Sport (vierte Stunde) war Fechten für Fortgeschrittene. Das »fortgeschritten« entsprach nicht gerade meinem Können, sondern war der Tatsache geschuldet, dass ich schon seit zwei Jahren Fechtunterricht hatte. Wenn man es recht überlegte, war die Sportart irgendwie lächerlich. Auch wenn ich eine »fortgeschrittene« Fechterin war – wäre ich jemals in Lebensgefahr, würde ich niemals auf Fechtkenntnisse zurückgreifen. Ich würde eine Schusswaffe benutzen.
Scarlet war meine Partnerin, und auch wenn sie im Fechtanzug hübsch anzusehen war, waren wir beide gleichermaßen schlechte Fechterinnen. Wir tarnten uns folgendermaßen: Scarlet konnte einige ordentliche Angriffsaktionen aneinanderreihen, und ich hatte den Trick raus, sie entsprechend zu parieren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Mr. Jarre, der Fechtlehrer, uns durchschaute, aber es war ihm wohl egal. Wir waren Teilnehmer von »Fechten für Fortgeschrittene«, und das bedeutete, dass der Kurs nicht abgesetzt würde.
Nach den Aufwärmübungen, die aus Dehnungen und Sprüngen bestanden, taten wir uns in Zweiergruppen zusammen.
Scarlet und ich fochten (mehr schlecht als recht) und redeten (hauptsächlich).
»Heute ist Freitag, das heißt, wir müssen Win heute Bescheid sagen«, erinnerte sie mich.
Ich stöhnte. »Mal im Ernst, frag du ihn doch selbst. Ich komme ja gerne mit, aber …«
Scarlet berührte meine Schulter leicht mit dem Degen. »Touché!«, rief ich, hauptsächlich für Mr. Jarre. Dann taumelte ich einige Schritte rückwärts.
»Wenn du dabei bist, hört es sich unverbindlicher an. Komm ungefähr fünf Minuten vor Ende der Mittagspause zu uns an den Tisch«, ordnete Scarlet an. »Und, Anya, meine Liebe, vergiss nicht, das Haarnetz abzunehmen.«
»Haha«, machte ich und stach den Degen in ihre Hüfte.
»Aua«, sagte sie. »Ich meine: Touché!«
Es war der letzte Tag, an dem ich Küchendienst hatte, und ich meine sagen zu können, dass ich so langsam den Dreh raushatte. Ich wusste, wie ich mehrere Tabletts aufnehmen musste, ohne mein Haar oder mich irgendwie zu bekleckern, und ich wusste, wie ich Gables Tisch mit einem sarkastischen
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