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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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Lächeln zu bedienen hatte.
    Als ich sein Tablett abräumte, sagte er zu mir: »Hoffe, du hast deine Lektion gelernt.«
    »Allerdings«, sagte ich. »Und ich danke dir sehr dafür, dass du sie mir erteilt hast.« Ich ließ das Tablett aufs Wägelchen fallen, so dass ein wenig Flüssigkeit (gemahlener Tofu mit einer mysteriösen roten Soße im Brötchen) ihm ins Gesicht spritzte. »Tut mir leid«, sagte ich und rollte das Wägelchen schnell weiter, bevor er etwas erwidern konnte.
    Ich stellte die Tabletts auf das Transportband, und die Kantinenfrau erteilte mir die Erlaubnis, selbst zu essen. »Gut gemacht, Anya«, sagte sie. Sicher war es nur Küchendienst, dennoch war ich froh, dass sie eine gute Meinung von mir hatte. Daddy hatte immer gesagt, wenn man mit etwas angefangen hatte (selbst wenn man gezwungen wurde), sollte man es auch mit Anstand tun.
    Scarlet saß bei Win und mehreren Freundinnen aus der Theater-AG. Ich setzte mich daneben und sagte meine Zeile auf: »Und, ist das mit dem Little Egypt heute Abend immer noch aktuell?«
    »Was ist denn das Little Egypt?«, fragte Win, praktischerweise genau die Frage, die er stellen sollte.
    »Ach, das ist ein bisschen albern«, erwiderte Scarlet. »Es ist ein Nachtclub, den die Stadt im Nordflügel von diesem leerstehenden Museum auf der Fifth Avenue aufgemacht hat. Früher war da eine Sammlung von ägyptischen Ausstellungsstücken, deshalb wird es immer noch Little Egypt genannt.« Es gab ähnliche Nachtclubs in verschiedenen leeren Gebäuden in der ganzen Stadt. Sie stellten eine bescheidene, aber zuverlässige Quelle von Steuereinnahmen für die Regierung dar, die immer am Rande des finanziellen Kollapses stand. »Ist ein bisschen lahm, aber auch ganz cool, wenn man noch nicht da war, und, keine Ahnung, j’adore la discothèque! « (Man erinnere sich, dass Win und Scarlet zusammen Französisch hatten.)
    Ich sagte meinen nächsten Satz auf: »Du kannst ja mitkommen, wenn du willst.«
    »Ich weiß nicht, ob ich ein großer Clubgänger bin«, zweifelte Win.
    Scarlet und ich waren auf so eine Reaktion vorbereitet.
    »Gibt’s denn so viele Nachtclubs in Albany?«, hänselte Scarlet ihn.
    Er grinste. »Na ja, manchmal haben wir Planwagenfahrten gemacht.«
    »Klingt aufregend«, gab sie mit einem koketten Schuss Ironie zurück.
    »Gibt es in New York auch viele Planwagenfahrten?«, fragte Win.
    Scarlet lachte. Ich spürte, dass sie ihrem Ziel näher kam.
    Wir beschlossen, uns abends um acht in meiner Wohnung zu treffen – sie war dem Club am nächsten.

    Als ich von der Schule nach Hause kam, sah ich als Allererstes nach Leo, doch er war nicht da. Ich redete mir ein, ich müsse mir keine Sorgen machen, es gebe bestimmt einen einleuchtenden Grund für seine Abwesenheit. Ich ging in Nanas Zimmer. Sie schlief, aber Imogen saß im Ledersessel neben dem Bett, in dem Ohrensessel, der früher Daddy gehört hatte. Drei frische rosa Nelken standen in der Vase auf der Fensterbank: Nana hatte Besuch gehabt.
    Ich winkte Imogen zu. Sie legte den Finger auf die Lippen, um mir zu signalisieren, dass ich leise sein sollte. Imogen war schon Nanas Pflegerin, seit ich dreizehn war – manchmal vergaß sie, dass ich kein kleines Kind mehr war, das vorzugsweise in das Zimmer platzte, wo meine Großmutter gerade schlief (nicht dass ich das je getan hätte). Ich nickte und winkte Imogen in den Flur. Sie legte ihr Buch auf die zerschlissene Armstütze des bordeauxroten Sessels, erhob sich und schloss leise die Tür hinter sich. Ich fragte sie, ob sie wisse, wo Leo sei.
    »Mit deinem Cousin unterwegs«, teilte Imogen mir mit. »Galina meinte, es wäre in Ordnung.«
    »Haben sie gesagt, wohin sie wollten?«
    »Tut mir leid, Annie. Ich habe offen gestanden nicht richtig zugehört. Galina hatte einen anstrengenden Nachmittag.« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht schwimmen? Nein, das ist ja Blödsinn.« Imogen runzelte die Stirn. »Aber ich meine schon, es hätte etwas mit Schwimmen zu tun gehabt.«
    Na klar. Der Pool.
    »War es falsch, Leo mitgehen zu lassen?«
    »Nein«, erwiderte ich. Es war natürlich nicht Imogens Aufgabe, meinen Bruder zu beaufsichtigen. Das war meine Pflicht, die dadurch erschwert wurde, dass ich, um Leos Gefühle zu schützen, so tun musste, als würde ich überhaupt nicht auf ihn aufpassen. Außerdem musste ich zur Schule gehen. Ich bedankte mich bei Imogen, und sie kehrte zurück zu Daddys Sessel und ihrem Buch.
    Ich wollte mich gerade aufmachen, um Leo in der Stadt

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