Bitterzart
zugleich. Es dauerte einen Moment, bis sie auf meine reagierten. Aber als sie es dann taten – du lieber Gott!
»Tut mir leid«, sagte ich. »Das hätte ich nicht tun sollen.«
»Das ist nicht schön, so was zu sagen«, meinte Win.
Und dann lief ich durch die Tür nach draußen in die frische Novemberluft.
Das Sonderbare war: Ich hatte allein fortlaufen wollen, aber dabei irgendwie nach Wins Hand gegriffen.
Wir landeten in meiner Wohnung.
Eine Weile küssten wir uns im Wohnzimmer, und wenn ich ehrlich bin, hätte es mich nicht gestört, wenn er mehr versucht hätte. Aber so ein Mädchen war ich nicht, und zum Glück war Win auch nicht so ein Junge.
Wir blieben die ganze Nacht wach und unterhielten uns über dies und das.
Dann ging die Sonne auf, und weil ich ihn so gerne mochte, wusste ich, dass ich mit ihm über etwas ganz Bestimmtes sprechen musste: über seinen Vater.
»Ich mag dich«, sagte ich.
»Gut«, erwiderte er.
»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, begann ich.
Er meinte, er höre gerne Geschichten, und ich entgegnete, mit dieser sei es vielleicht anders. Und dann erzählte ich ihm von dem Tag, als ich seinen Vater kennengelernt hatte.
Win kniff die Augen zusammen, und die Farbe änderte sich von Himmelblau zu einem dämmrigen Grau, wie kurz vor einem Wirbelsturm. »Es ist mir scheißegal, was er denkt und meint, Anya«, sagte Win.
Doch ich glaubte ihm nicht. »Mir ist es nicht egal«, sagte ich. »Es kann mir nicht egal sein.« Ich erklärte ihm, ich wolle vermeiden, dass sein Vater jemanden auf meine Familie ansetzte. Anders als Scarlet sagte Win nicht, es sei lächerlich, das für möglich zu halten. »Und das ist der Grund, warum wir nicht zusammen sein können.«
Win dachte darüber nach. »Es tut mir wirklich leid, dass er das zu dir gesagt hat, aber scheiß auf meinen Vater. Im Ernst, scheiß auf ihn«, sagte er. »Was ich tue oder lasse, geht ihn nichts an.«
»Geht es doch, Win. Ich kann ihn verstehen.«
Win küsste mich, und auf einmal konnte ich Charles Delacroix wieder nur ganz schlecht verstehen.
Es war fast halb acht Uhr morgens. Im Schlafanzug kam Natty aus ihrem Zimmer. »Wie war der Ball, Annie?« Dann entdeckte sie Win. »Oh!«
»Hi«, grüßte er.
»Er wollte gerade gehen«, sagte ich.
Win stand auf, und ich schob ihn in Richtung Tür.
»Komm, wir gehen direkt zu meinem Vater«, sagte Win in einem Ton, bei dem ich mir nicht sicher war, ob er scherzte oder es ernst meinte.
»Und sagen ihm was?«
»Dass unsere Liebe so stark ist, dass er sie nicht unterdrücken kann.«
»Ich liebe dich noch nicht, Win«, sagte ich zu ihm.
»Ja, aber das kommt schon noch.«
»Ich habe eine bessere Idee«, sagte ich. »Halten wir es geheim, bis wir wissen, ob wir es ernst meinen. Warum die Pferde scheu machen, wenn wir uns am Ende dann doch gar nicht so sehr mögen?«
»Hm«, machte Win. »Ich glaube, du bist das unromantischste Mädchen, das ich je gekannt habe.«
»Das verstehe ich als Kompliment«, lachte ich. »Ich bin nun mal praktisch veranlagt.«
»Gut«, sagte er. »Nennen wir es praktische Veranlagung.«
Dann kam der Aufzug, und er war fort, und ich fühlte mich, ehrlich gesagt, so unpraktisch wie noch nie zuvor in meinem Leben.
In der Wohnung wartete Natty auf mich. »Was war das denn?«, fragte sie.
»Nichts«, gab ich zurück.
»Das sah aber wie etwas aus«, meinte meine kleine Schwester.
»Du siehst Gespenster«, sagte ich. »So, was willst du zum Frühstück?«
»Rührei«, erwiderte sie. »Und eine Liebesgeschichte, wenn du eine erzählen kannst, Annie. Eine richtig schmalzige, romantische Liebesgeschichte mit tausend Küssen und so.«
Ich überhörte sie. »Also Rührei.«
»Weiß Scarlet es schon?«, fragte Natty.
»Nein, weil es nichts zu wissen gibt«, sagte ich.
»Das sah aber anders aus«, wiederholte Natty.
»Das hast du schon gesagt.« Ich schlug zwei Eier auf und verquirlte sie. Natty sah mich immer noch erwartungsvoll an. Ihre Augen waren so feucht und glänzend wie die eines Hundes, und irgendetwas an der niedlichen Vorfreude in ihrem Gesicht brachte mich zum Lachen, so dass ich ihr schließlich alles beichtete. Auch für Natty war das Leben nicht einfach gewesen – alles, was ich erlebt hatte, war auch ihr widerfahren. Es war rührend, wie unschuldig und wohlwollend sie dennoch war, wie sehr sie sich freute, dass ihre ältere Schwester verliebt war. »Ich mag ihn halt, okay?«
»Du liiiebst ihn!«
Ich goss die verquirlten Eier in
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