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Bitterzart

Bitterzart

Titel: Bitterzart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabrielle Zevin
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»Wir wollen jetzt zur Hochzeit fahren.«
    Sie nickte.
    »Das ist mein Freund Win«, erklärte ich. »Du hast gesagt, du wolltest ihn kennenlernen.«
    »Ah ja.« Nana musterte ihn von oben bis unten. »Ich bin einverstanden«, sagte sie schließlich. »Mit Ihrem Aussehen, meine ich. Ich hoffe, Sie haben noch mehr zu bieten als Ihr hübsches Gesicht. Das hier« – sie wies mit dem Kinn auf mich – »ist ein sehr gutes Mädchen, und sie verdient mehr als ein hübsches Gesicht.«
    »Finde ich auch«, sagte Win. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
    »Das willst du zur Hochzeit anziehen?«, fragte mich Nana.
    Ich nickte. Ich trug ein dunkelgraues Kostüm, das meiner Mutter gehört hatte. Win hatte mir eine weiße Orchidee mitgebracht, die ich mir ins Revers gesteckt hatte.
    »Ein bisschen streng, aber der Schnitt schmeichelt deiner Figur. Du siehst reizend aus, Anyeschka. Mir gefällt die Blume.«
    »Die hat Win mir geschenkt.«
    »Hm«, machte sie. »OMG, der junge Mann hat Geschmack.« Sie wandte sich an Win: »Wissen Sie, was OMG bedeutet, junger Mann?«
    Er schüttelte den Kopf.
    Nana sah mich an. »Du?«
    Scarlets Wort. »Umwerfend oder so«, erwiderte ich. »Ich wollte dich immer schon fragen.«
    »Oh, mein Gott«, sagte Nana. »Als ich jung war, lief das Leben viel schneller ab als heute. Wir mussten alles abkürzen, um Schritt zu halten.«
    »OMG«, wiederholte Win.
    »Können Sie sich vorstellen, dass ich vor langer Zeit genau wie Anya aussah?«
    »Ja«, sagte Win. »Das kann man noch sehen.«
    »Sie war hübscher«, warf ich ein.
    Nana sagte zu Win, er solle näher kommen, und er gehorchte. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er nickte. »Ja«, sagte er. »Ja, sicher.«
    »Viel Spaß, Anyeschka! Tanz für mich mit deinem hübschen Freund und grüße alle von mir.«
    Ich beugte mich vor, um sie auf die Wange zu küssen. Sie nahm meine Hand und sagte: »Du warst eine wundervolle Enkelin. Eine Ehre für deine Eltern. Gott sieht alles, mein Schatz. Sogar oder vielleicht gerade das, was die anderen nicht sehen. Ich wäre gerne stärker für dich gewesen. Vergiss nie, dass du unermesslich stark bist! Diese Stärke ist dein Geburtsrecht. Dein einziges Geburtsrecht! Verstehst du das? Mir ist ganz wichtig, dass du das verstehst!«
    Sie hatte Tränen in den Augen, deshalb sagte ich ihr, dass ich es verstehen würde, obwohl ich das in Wahrheit nicht tat. Ihre Worte wurden immer zusammenhangloser, ich nahm an, bei ihr setzte wieder eine der weniger klaren Phasen ein. Ich wollte vermeiden, dass sie mich vor Win und Imogen schlug. »Ich habe dich lieb, Nana«, sagte ich.
    »Ich habe dich auch lieb«, erwiderte sie und musste dann husten. Ihre Wangen wurden violetter als sonst, fast so als würde sie ersticken. »Geht!«, brachte sie gerade noch heraus.
    Imogen massierte meiner Großmutter die Brust, und der Husten wurde etwas schwächer.
    Ich fragte die Pflegerin, ob sie meine Hilfe bräuchte.
    »Es geht schon, Annie. Durch die Erkältung macht ihr die Lunge Probleme. Das ist ganz normal, wenn man in einem Zustand wie deine Großmutter ist.« Sie massierte weiterhin Nanas Brust mit der Handfläche.
    »Raus hier!«, keuchte Nana zwischen zwei Hustenanfällen.
    Ich nahm Wins Hand, und wir gingen.
    Ich flüsterte ihm zu: »Das tut mir leid. Manchmal ist sie verwirrt.«
    Win sagte, das würde er verstehen, ich müsse mich nicht entschuldigen. »Sie ist alt.«
    Ich nickte. »Man kann sich kaum vorstellen, selbst mal so alt zu werden.«
    Win fragte, in welchem Jahr sie geboren war, und ich nannte ihm die Jahreszahl, 1995. Nana würde im Frühjahr achtundachtzig werden. »Noch vor der Jahrtausendwende«, sagte er. »Es gibt nicht mehr viele so alte Leute.«
    Ich stellte mir Nana als kleines Mädchen, als Jugendliche und junge Frau vor, fragte mich, was für Kleidung sie wohl getragen, welche Bücher sie gelesen und welche Jungen ihr gefallen hatten. Sie wäre wohl nie auf den Gedanken gekommen, dass sie ihren eigenen Sohn überleben würde oder dass sie eines Tages eine alte, bettlägerige Frau sein könnte – kraftlos und verwirrt und ein wenig bizarr. »Ich möchte niemals so alt werden wie sie«, bemerkte ich.
    »Genau«, sagte Win. »Lass uns für immer jung bleiben. Jung, dumm und schön. Hört sich doch gut an, nicht?«

    Die Hochzeit war aufwendig, typisch für meine Verwandtschaft. Goldene Tischdecken, eine Kapelle, es war sogar jemandem gelungen, zusätzliche Gutscheine für Blumen und Fleisch aufzutreiben (sprich:

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