Bitterzart
aber zuhören, Anya. Du bist die stärkste, und du musst zuhören. Es ist mir wichtig, dass wir über diese Sachen sprechen. Auch wenn Leo offiziell der Vormund sein wird, wurde mit Mr. Kipling und seinem neuen Kollegen – ich vergesse ständig seinen Namen – vereinbart, dass du die Einzige sein wirst, die Zugang zum Geld hat. Dadurch wird Leo keine selbständigen Entscheidungen treffen können. Verstehst du das?«
Ich nickte ungeduldig. »Ja, sicher.«
»Dein Bruder wird vielleicht zornig sein, wenn er das herausbekommt, und das tut mir leid. Er ist nicht ganz gesund, aber er hat auch seinen Stolz. Dennoch – anders geht es nicht. Der Grundbesitz geht mit der Bedingung in einen Fonds über, dass er nicht vor deinem achtzehnten Lebensjahr verkauft werden kann. An deinem achtzehnten Geburtstag geht die Vormundschaft über Natty ebenfalls von Leo auf dich über.«
»Schön, schön. Aber die Ärzte sagen, dass dich die Apparate am Leben halten, bis ich achtzehn bin, wenn nicht sogar länger. Ich weiß nicht, warum wir jetzt darüber reden müssen.«
»Weil das Leben unerwartet verlaufen kann, Anya. Weil ich in letzter Zeit festgestellt habe, dass ich über zunehmend längere Phasen nicht ich selbst bin. Du kannst doch nicht behaupten, dass du das nicht gemerkt hättest, oder?«
Ich musste ihr recht geben.
»Ich entschuldige mich für alles, was ich in solchen Momenten zu dir gesagt habe. Ich liebe dich, Anya. Ich liebe alle meine Enkelkinder, aber dich am meisten. Du erinnerst mich an deinen Vater. Du erinnerst mich an mich selbst.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
»Der Verfall des eigenen Körpers ist eine Sache. Der Verfall des Geistes ist mehr, als man ertragen kann. Vergiss das nicht, meine Liebe.« Dann sagte sie mir, ich solle einen Riegel Schokolade nehmen, und wie immer ging ich zu ihrem Schrank und tat, als würde ich ihn mir herausholen, auch wenn seit Monaten keine Schokolade mehr in Nanas Schrank war. Jetzt war ich überrascht, einen einzelnen Riegel im Safe zu finden. Onkel Yuri musste ihn mitgebracht haben.
»Teil ihn mit deinem neuen Freund!«, rief sie, als ich die Tür schloss.
In meinem Zimmer konnte ich nicht anders, als den Schokoriegel zu streicheln. Es war Balanchine Extra Herb, meine Lieblingssorte. Daddy schmolz sie früher immer ein, um heiße Schokolade für Natty, Leo und mich zu machen. Er erwärmte Milch auf dem Herd, dann schnitt er den Riegel in kleine Stücke, die in der Milch schmolzen. Ich überlegte, ob ich in die Küche gehen und mir heiße Schokolade machen sollte, entschied mich aber dagegen. Auch wenn ich gehört hatte, dass die Ware wieder sauber war, hatte ich in den Monaten seit meiner Festnahme den Appetit auf Schokolade verloren.
Es klingelte, ich ging an die Tür. Als ich durch den Spion spähte, entdeckte ich Win.
»Komm herein!«, sagte ich. Aus Gewohnheit schaute ich mich um, bevor ich ihn küsste.
»Was ist das denn?«, fragte er.
Ich hatte noch immer den Schokoriegel in der Hand und erklärte ihm, dass Nana ihn mir geschenkt hatte und immer sagte, ich sollte ihn mit jemandem teilen, den ich liebte.
»Und?«, fragte er.
»Oh nein. Ganz bestimmt nicht!« Hatte er schon die Leiden des letzten Freundes vergessen, mit dem ich Schokolade geteilt hatte?
»Na, gut«, sagte er. »Ich hab eh schon mal Schokolade gegessen und mochte sie nicht.«
Ich verdrehte die Augen. »Was war das denn für eine Sorte?«
Er nannte eine Marke, die so ziemlich am Ende der Liste stand, was die Qualität betraf. Daddy hatte seine eigene Bezeichnung für so ein Zeug gehabt: Rattenköttel. Er war immer sehr eigen mit seinem Produkt gewesen. »Das ist ja nicht mal richtige Schokolade«, sagte ich zu Win. »Da ist so gut wie kein Kakao drin.«
»Dann gib mir mal das gute Zeug«, sagte er.
»Würde ich ja, aber ich habe deinem Vater versprochen, dich in nichts Illegales zu verwickeln.« Ich schob den Riegel in die Tasche meiner Strickjacke, nahm Wins Hand und führte ihn ins Wohnzimmer. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten.« Ich erzählte von der Hochzeit in Tarrytown.
»Nein«, entgegnete er. Lächelnd verschränkte er die Hände vor den Knien.
»Nein?«
»Hab ich doch gerade gesagt, oder?«
»Und warum nicht?«
»Weil ich immer noch nicht verdaut habe, dass du meine Einladung zum Herbstball abgelehnt hast, und ich bin ein sehr nachtragender Mensch. Muss ich eigentlich alles tun, was du von mir verlangst, Anya? Verlierst du dann nicht die Achtung vor
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