BKA - Die Jaeger des Boesen
bereits in ihrer Kindheit. So benutzt zu werden war ihr normaler Alltag. Sie hatte sich daran gewöhnt.« Das alles erfuhr Heidemarie Jung aber erst, nachdem es ihr gelungen war, Danielas Vertrauen zu gewinnen und sie zum Reden zu bringen. Und die Mutter? Hat die nichts gemerkt? Carmen Kerger-Ladleif: »Oft sind Frauen, in deren Familien es passiert, in einem Abhängigkeitsverhältnis von den Männern. Und immer wieder mal habe ich gehört, wenn ein Kind bei uns war und wir die Mutter sprachen : Was regen Sie sich auf? Meine Mutter hat es überlebt, ich habe es überlebt, meine Tochter wird es auch überleben.«
»Sexueller Missbrauch« ist zwar der gebräuchliche Begriff in der Kriminalstatistik, den gesellschaftspolitischen Debatten, der medialen Berichterstattung. Es geht aber nicht allein um direkten körperlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer. Es geht nicht nur um Penetration oder Oralverkehr. Sexueller Missbrauch beginnt bereits, wenn Kinder von Erwachsenen genötigt werden, mit ihnen gemeinsam Fotos pornografischen Inhalts anzuschauen oder zuzuschauen, wenn die miteinander treiben, was auf den Bildern zu sehen war. Volkmar Sigusch, Begründer der deutschen Sexualmedizin, hält ebenso wie Professor Klaus Michael Beier Pädophile für kaum therapierbar, denn dass die darauf verzichteten, »ihre sexuellen Wünsche zu realisieren«, gehöre zu den eher seltenen Glücksfällen. »Zwischen der kindlichen Sexualität und der eines Erwachsenen klafft ein unüberwindbarer Abgrund, der nur durch mehr oder weniger erkennbare Gewalt- und Machtausübung überwunden werden kann.« Er unterscheidet bei sexuellem Missbrauch von Kindern zehn Tätertypen:
Inzesttäter wie Vater, Onkel, Bruder, Großvater,
Nachbar, sozial gestört, oft alkoholisiert bei seiner Tat, aber nicht krankhaft pädophil,
Junge in der Pubertät,
in ihrer Entwicklung zurückgebliebene Erwachsene,
unreife Erwachsene wie zum Beispiel Priester,
geistig kranke Täter,
Sextouristen,
im Alter enthemmte Männer, die bislang nie auffielen,
Perverse mit Neigung zu Gewalt,
Pädophile, die ausschließlich Kinder begehren.
Auf der Reise zu diesen Stationen der Finsternis trifft man auf viele unterschiedliche Namen für die alltäglichen Übergriffe auf Kinder. Alle werden registriert unter dem Begriff »Missbrauch«. Rund fünfzehntausend Kinder unter vierzehn werden laut Statistik in Deutschland jährlich Opfer von Missbrauch. Erfasst sind darin aber nur Fälle, die aufgrund von Anzeigen bekannt werden. Bundeskriminalamt und Opfervereine wie »Dunkelziffer« gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl das Zehn- bis Fünfzehnfache beträgt, also pro Jahr zwischen hundertfünfzigtausend und zweihundertfünfundzwanzigtausend Kinder betroffen sind. Was hochgerechnet bedeutet, dass mindestens jedes fünfte kleine Mädchen und mindestens jeder zwölfte Junge Opfer eines sexuellen Übergriffs werden. Wie hoch die Dunkelziffer wirklich ist, weiß niemand, weil es keine belastbaren Studien gibt. In einer Großstadt wie Berlin zum Beispiel könnte sie sogar das Fünfundzwanzigfache der dort bekannt gewordenen Fälle betragen.
Die meisten bleiben unentdeckt, was nicht etwa daran liegt, dass es Kriminalbeamten an Einsatzwillen fehlt. Sondern an verwertbaren Erkenntnissen. Viele Opfer verzichten leider zu oft auf eine Anzeige, schweigen aus Angst vor den Tätern oder weil sie sich schämen oder – so pervers das in dem Zusammenhang klingen mag – weil sie deren sogenannte Liebe nicht verlieren wollen. Denn die meisten Mädchen, die es im Laufe ihrer Kindheit trifft, geschätzt mehr als siebzig Prozent, werden von Mitgliedern ihrer Familie vergewaltigt – Vater, Großvater, Onkel – und glauben mitschuldig zu sein an dem, was ihnen geschah. Es wurde ihnen zudem so eingebläut. Typischer Satz einer jungen Frau, die
als Kind jahrelang von ihrem Großvater missbraucht worden war: »Ich fühlte mich als Mittäterin.« Als sie sich endlich zur Anzeige entschloss, war es für eine Strafverfolgung zu spät, die Taten ihres lieben Opas waren schon verjährt.
Sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung können in Deutschland zwar je nach Schwere des Falles auch noch, zehn bis zwanzig Jahre nachdem das Opfer die Volljährigkeit erreicht hat, also achtzehn geworden ist, zur Anklage führen. Die oben zitierte Enkelin aber, die sich so lange als Mittäterin empfunden und erst viele Jahre nach dem letzten Missbrauch ihre völlig unbegründeten Schuldgefühle überwunden hatte, war
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