BKA - Die Jaeger des Boesen
Verbrechen, von dem keiner spricht. Zu kraß widerlegt das Ausmaß der Untaten das Bild von der heilen Familie. Ann Thönnissen und Klaus Meyer-Andersen brachen das Tabu. In einer Serie für den ›Stern‹ deckten sie die schmutzigste Seite des Kindesmißbrauchs auf: das Geschäft mit Kinderprostitution und -pornographie. In monatelangen Recherchen spürten sie Eltern nach, die ihre eineinhalbjährigen Kinder gegen Geld zum Sex anboten, entlarvten sie Väter, die ihre kleinen Töchter zu Sexspielen vor der Videokamera zwangen. Und sie sprachen mit Opfern, die durch die Vergewaltigung von Körper und Seele fürs Leben gezeichnet sind.«
Der Fotoreporter wollte mehr als nur aufdecken, berichten, reden. »Man müsste einen Verein gründen, der sich um die kindlichen Opfer kümmert und ihnen zurückhilft auf dem Weg in ein einigermaßen normales Leben«, sagte Meyer-Andersen bei einem Flug nach München zu seinem Sitznachbarn, dem er von seinen Erlebnissen erzählte und den er schon lange kennt. »Brauchst du dafür Geld?«, fragte ihn der und schrieb noch vor der Landung einen Scheck aus über 100 000 Mark, gezeichnet Wolfgang Joop.
So wurde 1993 »Dunkelziffer e.V.« gegründet. Es ist, falls man im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch diesen Begriff benutzen darf, eine Erfolgsgeschichte geworden. Finanziert wurden anfangs Projekte in Hamburger Stadtteilen, zum Beispiel Beratung bei akuten Notfällen von Betroffenen, die sich telefonisch meldeten. Popmusiker wie die Gruppe Pur oder Barden wie Reinhard Mey spendeten Einkünfte aus Plattenverkäufen. Der Initiator Klaus Meyer-Andersen blieb die Galionsfigur, die 1998 engagierte Geschäftsführerin Vera Falck, gelernte Betriebswirtin, schuf nach und nach die nötigen Strukturen für den Verein, der inzwischen verankert ist in einem bundesweiten System von Kriminalbeamten,Therapeuten, Pädagogen und Opferanwälten. Sechzig Juristen, spezialisiert auf Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch, sind bei »Dunkelziffer« registriert und sofort bereit, Opfern vor Gerichten zu helfen.Viele gehören zu großen Kanzleien,
bei denen es Tradition ist, nach dem klassischen Pro-Bono-Prinzip kostenlos all diejenigen zu beraten, die sich keine teuren Anwälte leisten können. Bei kleineren Sozietäten übernimmt »Dunkelziffer« die Kosten der ersten Konsultation.
Für die Bezahlung der acht fest angestellten Mitarbeiter und der sechs Honorarkräfte – Vera Falck: »Gern würden wir aufstocken, aber es fehlt uns das nötige Kapital« –, für laufende Kosten, für Präventionsmaßnahmen, Therapieplätze und Seminare braucht der gemeinnützige Verein 750 000 Euro im Jahr. Er ist auf Spenden angewiesen (Kontonummer 86 80 00 100, Deutsche Bank, BLZ 20 07 00 24), auch und vor allem in Krisenzeiten. Warum hat »Dunkelziffer« nie Unterstützung aus öffentlichen Mitteln beantragt ? Dorothee Kruse, Vorstand des Vereins, Frau des 2001 verstorbenen Initiators Klaus Meyer-Andersen: »Das ist geboren aus dem bürgerlichen Selbstverständnis der Gründer, die alle der Ansicht waren, so etwas Wichtiges müsse auch ohne Staat zu schaffen sein. Wenn in dieser Gesellschaft, in diesem Staat Kindesmissbrauch passiert, hunderttausendfach jedes Jahr, dann geht das alle etwas an.« Rechtsmedizinerin Dragana Seifert bestätigt: »Es passiert in allen Schichten. Ich habe aber den Eindruck, dass alle Formen von Gewalt gegen Kinder in bürgerlichen Familien von seelischer Gewalt begleitet sind.« In Familien der Unterschicht – aber den Begriff »Unterschicht« würde Seifert nie benutzen – wird zuerst geschlagen und dann missbraucht.
Heidemarie Jung, als Therapeutin bei »Dunkelziffer« engagiert, schildert einen typischen Fall aus ihrer Praxis. Ein knapp sechzehnjähriges Mädchen war in seiner Schule aufgefallen, weil sich nicht mehr verbergen ließ, dass es schwanger war. Das Jugendamt wurde eingeschaltet, und danach kam Daniela (Name geändert, Anm. d. Verf.) zu ihr in die Therapie. »Ich musste zunächst versuchen, die Sprachbarriere zu brechen. Sie sprach einfach nicht, antwortete nicht auf meine Fragen.« Was aber nicht ungewöhnlich ist bei Opfern sexuellen Missbrauchs, vor allem bei denen, denen in ihrer Familie Gewalt angetan worden war.
Viele empfinden das, was ihnen geschah, als Schande und wollen
es lieber totschweigen. Jung: »Dieses Mädchen ist in seiner Familie vom Vater und von seinen Brüdern systematisch missbraucht worden, manchmal kamen nachts zwei von denen zu ihr. Es begann
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