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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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Kleidungsstücke auf dem Fußboden; er stand mit einem Ächzen auf und beförderte die übel riechenden Reste seiner Abendgarderobe hinter die gusseiserne Klappe des schlichten Kachelofens, der wie ein Grabmal in der Ecke des Wohnzimmers stand, um sie später zu verbrennen.
    In der Küche betrachtete er sein verquollenes Gesicht in einem Rasierspiegel. Ungerecht, einen derartigen Kater zu haben, wenn man nicht mal zum Saufen gekommen war. Wahrscheinlich hatte das giftige Gas in den Klamotten der Fliehenden gehangen, und er hatte ein paar ordentliche Atemzüge mitgenommen. Lehmann gurgelte eine halbe Flasche Odol weg, wusch sich mit kaltem Wasser, kramte schließlich im Vorratsschrank unter dem Küchenfenster nach einer Flasche Schnaps. Er verwarf den Gedanken wieder und braute sich auf dem gekachelten Herd einen starken Kaffee, der bitter schmeckte, bitter wie Bittermandeln. Sándor nahm einen zweiten Schluck. Hatte er überhaupt schon mal Bittermandeln gegessen? Mandelpudding, das ja. Mit grünem Escorial. Er runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen und suchte dann erneut unterm Küchenfenster nach dem Schnaps.
    Der rote Ford A stand vermutlich noch da, wo er ihn gestern geparkt hatte. Sándor fuhr notgedrungen mit dem Bus hin. Der nächtliche Gewaltmarsch durch den Tiergarten rüber nach Moabit zu seiner kühlen Hinterhofbude hatte seinen Kopf nicht klarer gemacht; und auch jetzt am Morgen, als der Bus die Spree überquerte und die Bartningallee passierte, bekam er die Dinge nicht zurechtgerückt. In dieser wild durcheinanderbrodelnden Millionenstadt passierte alle paar Minuten irgendwo irgendwas, und Sándor Lehmann hatte in den letzten Jahren Dinge gesehen, die den Kriegserlebnissen nur in Wenigem nachstanden. Aber dennoch: All das Rauben und Morden, die Vergewaltigungen, Hehlereien, die ersäuften Kinder und die Brandstiftungen ergaben ein Muster, eine gewalttätige, dunkle Melodie, die er seit Jahren gut kannte und die – mit ständig wechselnden Soli und Tempi – sich doch immer ähnlich blieb. Er hatte, ausgestattet mit den Ohren des geübten Musikers, gelernt, genau hinzuhören, und oft hatte die wilde Musik ihn mit einer barbarischen, mitreißenden Lebensfreude erfüllt. In Berlin zu überleben, mittendrin zu stehen in diesem Inferno und den Überblick zu behalten, sogar zu profitieren: Das gab ihm ein verrücktes Gefühl von Überlegenheit. Es war seine Stadt, seine eigene verdammte Stadt, und er verstand, was hier passierte, das Schöne und das Beschissene. Er – und niemand sonst, den er kannte –, er allein hatte die Sache im Griff.
    Was gestern Nacht in der Femina passiert war, war ganz anders gewesen. Nicht wegen der vielen Toten – sie waren beim ersten Zählen auf acht gekommen, aber die Zahl war unterdessen zweifellos gestiegen. Viele Tote gab es auch bei Hausbränden, bei Gasexplosionen oder wenn irgendein Verzweifelter mit seinem alten Sturmgewehr aus dem Krieg durchdrehte und in die Menge schoss. Oder bei den Straßenschlachten zwischen den Kommunisten und den Nazis, die immer wütender aufeinanderprallten. Beim »Blutmai« letztes Jahr, wo durch Polizeikugeln 33 Menschen getötet worden waren.
    Nein, in der Femina hatte die Schellackplatte, von der die wilde Melodie der Gewalt dröhnte, einen Sprung bekommen. Sándor Lehmann zimmerte sich immer neue Erklärungen zurecht, wer hinter der Sache stecken mochte, wem der Angriff nutzen konnte, welche Rachegelüste oder Bereicherungsabsichten da verfolgt wurden. Nichts passte. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, und das machte ihn stocksauer.
    Auf dem Weg zum Alexanderplatz sah er die aufgerissenen Mäuler der Passanten, die sich all die aufregenden Gerüchte zuriefen, durch die beschlagenen Scheiben des Ford A. Der Anschlag auf die Femina war die Sensation des Tages; das war klar, und Lehmann steuerte den roten Wagen gleich über die hintere Rampe in die Tiefgarage unterm Präsidium, um gar nicht erst der Pressemeute in die Arme zu laufen, die zweifellos unten im Foyer rumlungerte.
    Belfort, dessen rauchgeschwängertes Büro Sándor Lehmann am Ende eines überfüllten, mit grünem Linoleum ausgelegten Flures betrat, machte im Unterschied zu ihm selbst keinen sonderlich verkaterten Eindruck. Er telefonierte und bedeutete Sándor mit missbilligend wedelnder Hand, die Tür zu

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