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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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aber er hatte den witternden Wahrnehmungssinn eines Maulwurfs, deshalb registrierte er instinktiv, dass von beiden Straßenenden gleichzeitig Ungemach drohte. Der Neue hatte offenbar schnell geschaltet und weitere Schupos von zwei Seiten um den Block geschickt, die jetzt die Passauer Straße südlich und nördlich dichtmachten und sich zur Mitte des Straßenabschnitts durcharbeiteten, wo er selbst in absoluter Aufregung verharrte und keinen Ausweg sah. Obendrein kam jetzt Sándor Lehmann im gestreckten Laufschritt durch die Hofdurchfahrt gejagt und rief seinen Namen. Hallstein fluchte noch einmal, erschreckte Passanten mit dem verzweifelten Ausbruch, rannte dann mitten in den fließenden Verkehr. Schneeweiße Reklamekutschen, ein Bus und ein paar Lieferwagen wichen ihm aus; dann hatte er den westlichen Eingang des KaDeWe erreicht, entwischte den ausgebreiteten Armen eines dekorativen Schwarzafrikaners im weißen Frack und verschwand im Gewühl des Kaufhauses.
    Augenblicklich umgab ihn das gediegene Ringsum getäfelter Wände, tiefhängender Art-déco-Leuchten, samtbeschlagener Fauteuils. Die Schmuckabteilung. Stände mit edlen Hérmes-Tüchern und Parfüm in Kristallflacons staffelten sich in der weiträumigen Eingangshalle. Doch Hallstein hatte keine Augen für die teuerste Warenpräsentation Deutschlands, und er wunderte sich auch keine Sekunde über den obszönen Widerspruch zwischen der draußen tobenden Weltwirtschaftskrise, bald fünf Millionen Arbeitslosen und blutigen Kämpfen zwischen Streikenden, Polizisten und Nationalsozialisten auf der einen und diesem grenzenlosen Übermaß alles Schönen und Teuren auf der anderen Seite. Nein, Fritz Hallstein wollte nach oben, buchstäblich nach ganz oben, und auf dem Weg über die überfüllten Rolltreppen kam ihm sein Leben als Preisboxer – gut dreißig Jahre war das her – zugute, denn er rempelte sich mit einer verzweifelten Energie über die Messingtreppen hinauf, die seinen uniformierten Verfolgern das Nachkommen schwer machte.
    Nach fünf kräftezehrenden Stockwerken erreichte er endlich die oberste Etage. Die Feinschmecker-Terrassen waren in den »Weißen Wochen« wie die Decks eines pompösen Ozeanriesen gestaltet, und in den Liegestühlen lagen Promotions-Girls in weißen Badeanzügen und setzten sich der frischen Frühlingsluft und den begehrlichen Blicken der Männer unter den Tausenden Schaulustigen aus. Fritz Hallstein war seit dem Umbau 1929 nicht mehr hier oben gewesen, aber irgendwo hinter den bombastischen Oceanliner-Kulissen und den albernen Schiffsrelings musste es einen Personalausgang geben, ein schmales Türchen zu einer kleinen Balustrade, über die man auf die Nachbardächer kam, auf Mietshäuser und Lagerhallen, wo sie seine Spur schnell verlieren würden und die er wie seine Westentasche kannte – denn oben auf den Dächern über der Passauer und Nürnberger Straße traf er seine Lieferanten, die Taschendiebe und räuberischen Eintänzer, die die Gäste der Femina jede Nacht um goldene Feuerzeuge, nachlässig in die Smokingtaschen gestopfte Geldscheine, Uhren, Schmuck und ähnlichen Ballast erleichterten. Wenn er diese Dächerflucht erst einmal erreichte, wäre er in Sicherheit. Doch wo war die verdammte Tür? Hallstein hastete über das Sonnendeck, warf Liegestühle um, erschreckte einige mondäne Blondinen beim Sonnenbad und brachte einen überforderten Decksteward in weißer Galauniform um ein ganzes Tablett mit Champagner, der, mit Anislikör gespritzt, milchig weiß in den Gläsern geperlt hatte.
    Eben trafen auch seine Verfolger in der Feinschmeckeretage ein, riefen »Halt, Polizei« und benutzten ihre Trillerpfeifen. Niemand schoss; das war ihnen angesichts der kreischenden Menschenmenge offenbar zu riskant. Sie schwärmten symmetrisch in alle Richtungen aus, versuchten ihn einzukreisen und machten auch sonst wenig Anstalten, die von Inhaber Hermann Tietz und seinen Tempelwächtern formulierte luxuriöse Dezenz des noblen Hauses zu respektieren. Eine Reihe von Hausdetektiven und selbst der schwarze Cerberus im Frack aus dem Parterre beteiligten sich inzwischen an der Jagd; Hallstein merkte, dass er in die Enge getrieben war. Er rannte eine schmale Gangway und eine anschließende Deckstiege zu einem mit Holzmöwen und Rettungsringen dekorierten Offizierskasino hinauf,

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