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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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mit Maßbändern die Abstände zu allen möglichen Bezugspunkten des Ballsaales vermaßen, stand Belfort neben Sándor auf der Bühne. Das wurde zur Gewohnheit; ihm ging diese Nähe auf die Nerven; für ein Reiterstandbild mit zwei ebenbürtigen Generälen im Schlachtengetümmel wollte er nicht Modell stehen. Ohnehin würde der andere gleich wieder irgendeine abfällige Bemerkung machen wie letzte Nacht unten auf der Straße.
    Doch Belfort schwieg und nickte nur grimmig vor sich hin; er schien den Ablauf des Anschlags vor seinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen, den Tatvorgang, das quellende Gas, die Panik.
    Als der Kommissar schließlich sprach, hatte er jedoch offenbar über ganz andere Dinge nachgedacht.
    Â»Wie mag es sein, hier oben zu stehen, Lehmann, können Sie mir das sagen?«
    Â»Wir stehen doch hier oben«, gab Sándor knapp zurück, doch Belfort überhörte die Ironie.
    Â»Als Kapellmeister« – das war ein altmodisches Wort; Julian Fuhs hätte sich die Bezeichnung verbeten, er war Bandleader, sie machten Jazz, keine Blasmusik –, »oder als Musiker: Wie mag es sich anfühlen?«
    Sándor Lehmann riskierte einen Seitenblick. Hatte Belfort ihn doch erkannt gestern Abend, fühlte er ihm auf den Zahn? Doch der Monolog schien gar nicht ihm zu gelten.
    Â»Unten tanzen die Menschen, vom Alkohol gelöst, benebelt – hier oben stehen die Musiker, die Verführer, und spielen eine Musik, die so schon seit Jahrhunderten, ach was: seit Jahrtausenden be kannt ist. Urwaldtrommeln, Fruchtbarkeitstänze. Ja, Lehmann« – Belfort hatte die kalte Reserviertheit verlassen, und seine Stimme bekam einen eifernden Unterton –, »ja, Fruchtbarkeitstänze, das ist es, was hier jeden Abend aufgeführt wird. Hier und in vielen Lokalen wie diesem. Aber es ist keine Fruchtbarkeit, die Familiengründung oder Fortbestand der eigenen Art zum Ziel hat. Oh nein, diese Fruchtbarkeit ist dem Augenblick geweiht, der ungezügelten Sexualität. Haben Sie die Tanzenden gestern Abend gesehen, Lehmann? Wie sie ihre Unterleiber gegeneinanderstießen – ein Kopulieren in aller Öffentlichkeit! Sexualität, darum dreht sich hier alles. Sich animieren lassen von den Urwaldtrommeln, und dann sind das Tischtelefon und die Rohrpost gleich in Reichweite, um dieses Animiertsein mit dem erstbesten Fremden auszuleben.
    Wie mag es sich anfühlen für einen Musiker, hier oben der Hohepriester dieses Sexualkultes zu sein? Mit dem Instrument die Leiber auf der Tanzfläche in Bewegung zu bringen, in ekstatische Zuckungen?
    Jazzmusiker! Da verlässt einer seine angestammte Rolle und erhebt sich über seinesgleichen. Die anderen sind alle nur Arbeiter, schlichte Menschen. Er selbst hält sich für etwas Besseres, für einen, der die Melodie spielt, nach dessen Pfeife getanzt wird. Einfachheit, gar Demut? Die werden Sie bei diesen denaturierten Künstlertypen nicht finden. Nur wenn dann plötzlich was schiefgeht, dann rennen sie wie die Hasen, die Herren Musiker. Haben Sie die elende Combo gesehen, die während des Anschlages auf der Bühne war? Verkrochen hat sie sich, verkrochen, um erst heraus geschlichen zu kommen, als der Pulverdampf sich längst verzogen hatte. Helden! Ha! Helden!«
    Sándor hatte die ausufernde Tirade wortlos über sich ergehen lassen und unterbrach erst jetzt Belforts Vortrag.
    Â»Wie ist es abgelaufen? Sie haben die Hülse gefunden; wo kam die Gasgranate her?«
    Belfort hielt inne, fuhr sich mit der Linken durch die glatten schwarzen Haare und räusperte sich. Er deutete mit der Hand in den Raum vor der Bühne.
    Â»Irgendwo da vorn ist es passiert. Anderthalb Kilo, vierziger Kaliber, ein Zünder mit Abzugsring wie bei einer Eierhandgranate. Sie waren ja wohl im Krieg?«
    Er fixierte Lehmann skeptisch, schloss aber aus dessen erbostem Blick, dass Sándor offenbar tatsächlich ausgiebigere Fronterfahrung haben musste. Lehmann nickte und ergänzte:
    Â»Ein Abzugsring und fünfzehn Sekunden bis zum Knall, damit man das Scheißding möglichst weit weg werfen kann.«
    Belfort deutete in Richtung Treppe.
    Â»Bis die Gaswolke wirklich groß ist, vergehen auch bei einem Vierziger gut dreißig, vielleicht vierzig Sekunden. Zeit genug, um sich gemächlich Richtung Ausgang zu begeben und unbemerkt die Treppe hinunterzugehen, bevor oben das große Sterben

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