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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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Reisenden sehen, Damen mit Bediensteten, rauchende Herren, Lesende. Ein Schaffner arbeitete sich von Sitzreihe zu Sitzreihe vor, eine uniformierte Gestalt, schlaglichtartig beleuchtet, die gegen die Fahrtrichtung des Zuges im Waggon zurückging und dabei wie ein unwahrscheinlicher Verstoß gegen jede physikalische Regel auf der Stelle zu stehen schien. Der Zug rollte unaufhaltsam vorwärts, und der Schaffner strebte Reihe für Reihe zurück, kontrollierte, nickte, sorgte für Ordnung. Jeder kam dran.
    Die roten Schlusslaternen des Zuges flackerten vorbei; dann beherrschten wieder Rauch und Leere und die Lichter des Alexanderplatzes den Blick, bis eine S-Bahn vorbeiratterte, rüttelnd, blechern. Der Lärm hätte eine Antwort übertönt, wenn Sándor denn eine gegeben hätte. Belfort widmete sich wieder den Karteikarten. Er schien sich jeden Namen einzeln einprägen zu wollen, weil jeder Einzelne als Täter infrage kam – oder eins der Opfer war, die unten in der Leichenschau in den stählernen Kühlfächern lagen.
    Hinter diesen dreihundert Namen verbarg sich eine ganze untergehende Welt – die Welt der parlamentarischen Demokratie, die Verbrechen wie dieses nur katalogisieren konnte und erklären, aber nie wirksam verhindern.
    Sándor Lehmann ließ sich – ausnahmsweise mit einem chauffierten Dienstwagen – auf einen Sprung nach Hause fahren, um sich für den abendlichen Einsatz zu waschen und umzuziehen – den Einsatz als Polizist mit Durchsuchungsbefehl und als Klarinettist in Julian Fuhs’ »Follies Band«, die heute Abend im Café Jenitzky einen großen Auftritt haben sollte. Draußen, auf dem staubigen Alexanderplatz und Unter den Linden, ging ein Regen nieder; die Straßenbahnschienen glänzten, die ganze Stadt glänzte.
    Sándor rieb sich mit der Hand über die Augen; er fühlte pochende Nervosität unter den Augenlidern. Eine Tram ratterte neben ihnen auf den Schienen. Der Polizeiwagen hatte moderne Scheibenwischer. Sie gaben einen Takt vor, den Sándors Schuhspitzen mittappten; die ersten Takte von Sam Woodings »Love Me Or Leave Me« wirbelten ihm durch den Kopf.
    Sam Wooding war ein ganz anderes Kaliber als die immer gut gelaunten »Follies« – der Bandleader der »Chocolate Kiddies« machte einen großstädtischen, ungestümen Jazz, und der Klarinettist Jerry Blake, der mit Woodings Band eben wieder in Berlin war, ließ sein Instrument eine fiebernde, herausfordernde Sprache sprechen, die Sándor berührte und elektrisierte. Sam Woodings Auftritte im UFA-Palast und im Haus Gourmenia waren eben mit Standing Ovations und militanten Störmanövern der SA über die Bühne gegangen; jetzt liefen noch mehrere Rundfunkkonzerte mit den ausschließlich schwarzen Bandmitgliedern, die frenetischen Jubel bei den Fans und empörte Hörerbriefe und Protestschreiben an die Rundfunkanstalt und die Zeitungen hervorriefen. Ja, love me or leave me – man musste ihn lieben, den Hot Jazz und das neue Lebensgefühl, oder hassen, hassen, wie Kollege Belfort und die von der nationalsozialistischen Hasspresse aufgehetzten Sittenwächter es ganz unübersehbar taten.
    Aber genau dieser treibende Rhythmus, dieser Drive, war der Atem dieser Stadt, dieses Berlins, das draußen hinter den rhythmischen Scheibenwischern des Polizeiwagens zuckte und tanzte. Black Bottom! Oben in den Kommandozentralen der Generäle und den schimmernden Wahnvorstellungen der Politik war Deutsch land wieder auf dem Weg zu neuem, weltweitem Glanz – doch in Wahrheit versank es in einem schwarzen Bodensatz, in dem sie alle tanzten, zappelten und Musik machten um Kopf und Kragen.

ABENDZEITUNG
    Den ganzen Tag über hatten die journalistischen Maulwürfe Wühlarbeit geleistet. Lehmann hatte sich nicht zum Stand ihrer Ermittlungen geäußert, aber auch von Belfort und von Gennat selbst war nichts Offizielles zum furchtbaren Gasangriff auf die Femina zu erfahren, und Bernhard Weiß, der Vizepolizeichef, hatte nur die üblichen Standardsätze zum Besten gegeben. Ein schreckliches Verbrechen, Motive unklar, aber ablehnenswert, Beileid den Hinterbliebenen, Untersuchungen laufen auf Hochtouren. Sándor konnte sich vorstellen, dass das den Dreckwühlern nicht reichte; sie schwärmten aus und klapperten ihre Quellen ab, denn ein sensationshungriges Millionenpublikum dürstete noch nach den

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