Black Bottom
haarkleinsten Informationshäppchen, die zu kriegen waren. Der
Berliner Herold
, die
Morgenpost
, die
B. Z
., die
Vossische
, die
Volks-Zeitung
, der
Lokal-Anzeiger
, die
Abend-Zeitung
, Rudolf Mosses
Tageblatt
und August Scherls
Tag
â Dutzende von Berliner Tageszeitungen gierten nach Augenzeugenberichten, rührenden Einzelschicksalen und möglichst schillernden Verdächtigungen. Unter den Linden, Ecke FriedrichstraÃe schrien sich die Zeitungsjungs die Lunge aus dem Leib; an der Leipziger StraÃe kam sogar der Verkehr zum Erliegen, weil zu viele Fahrer ihre Automobile halten lieÃen, um eine Abendzeitung zu kaufen. Die Zahl der Opfer stieg von Blatt zu Blatt mit der ÃberschriftengröÃe; wer noch vergiftet im Krankenhaus lag, wurde kurzerhand totgeschrieben. Die Boulevardpresse war elektrisiert: »Femina schlägt Kürten«, titelte ein Blatt aus dem Scherl-Verlag wahrhaftig als Gipfel der Geschmacklosigkeit. In der Tat hatte der Sexualmörder Peter Kürten, der »Vampir von Düsseldorf«, der im Frühjahr verhaftet worden war, neun Menschen bestialisch umgebracht. Die Zahl der Toten des Femina-Attentats war â von ihm, Sándor, hatten sie das nicht erfahren â im Lauf des Nachmittags auf elf gestiegen.
Julian Fuhs waren sie am Vormittag auf die Pelle gerückt; ein Reporter der
Vossischen
und zwei Lokal-Anzeigler hatten dringend um ein Interview nachgesucht und gleich einen Fotografen mitgebracht. Um ein bisschen Konzertatmosphäre vor die Kamera zu bekommen, hatte der Scherl-Verlag, bei dem der
Lokal-Anzeiger
erschien, im Delphi angerufen und nach einer Fotoerlaubnis gefragt; Julian war auch dort ein Begriff, und so trafen sie sich vor dem Säuleneingang in der FasanenstraÃe und schlenderten durch den abgedunkelten Saal zur Bühne.
Julian war normalerweise niemand, der sich mit Schauergeschichten und eigenen schlimmen Erlebnissen wichtigmachte; andererseits war jede Pressemeldung Publicity, und die brauchte er so sehr wie jede andere der verzweifelt um die Zuhörergunst buhlenden Berliner Jazzkapellen, von denen es in diesen finanziell knappen Zeiten sowieso viel zu viele gab. Also skizzierte er den gestrigen Abend aus Bühnensicht, streifte seine aktuellen Arrangements, erwähnte die neue Sängerin, Bella.
»Bella Bellissima, die Schöne â hat die junge Dame auch einen Nachnamen?«, wollte der Reporter der
Vossischen
wissen, und Julian legte den Finger auf die Lippen und machte in professioneller Verschwörerroutine ein Geheimnis daraus.
»Nur ⦠Bella. Fragen Sie die Dame doch selbst; heute Abend steht sie mit uns im Café Jenitzky auf der Bühne.«
Er wurde ernst und beschrieb den Augenblick der Panik, das aufwallende gelbe Gas direkt vor der Bühne, die Weltkriegsveteranen, die als Erste begriffen hatten, in welcher tödlichen Falle sie da saÃen, und die den Sprung aus dem Fenster dem elenden Verrecken in der Todeswolke vorgezogen hatten.
Der Reporter der
Vossischen
hatte der Beschreibung mit ernstem Blick zugehört und sich nur wenige Notizen gemacht, während die Kollegen vom
Lokal-Anzeiger
ausdruckslos und akribisch alles protokollierten, was Julian sagte, und keine Fragen stellten. »Sagen Sie, Herr Fuhs«, Julian staunte über die mitleidlose Härte, mit der der Journalist seine Frage vorbrachte, »ist das nun der Todesstoà für die Berliner Jazzmusik? Bleiben die Tanzpaläste jetzt leer, weil die Menschen Angst haben müssen, beim nächsten ausgelassenen Tanzvergnügen Opfer eines weiteren Angriffs zu werden? Und glauben Sie, dass genau hierin das Kalkül der Sache liegen könnte â dass die modernen Vergnügungslokale, mit denen der Westen unserer Stadt seit ein, zwei Jahren so auftrumpft, in den Ruin getrieben werden sollen? Von wem? Wer profitiert aus Ihrer Sicht davon, wenn die Femina schlieÃt und die Leute ihr Vergnügen nicht mehr an Tauentzien und Kuâdamm suchen, weil hier â buchstäblich! â dicke Luft herrscht?«
Julian blies die Backen auf und lieà den Atem mit einem Stoà entweichen. Das waren eine Menge Fragen, die einem offensichtlichen Ziel folgten: ihn zum Stichwortgeber einer Verschwörungstheorie zu machen; eine Erklärung zu hören für etwas, das ihm vor allem noch immer als unerklärlicher, aber sehr realer Schrecken in den Gliedern saÃ. Nein, so einfach war das nicht zu beantworten, und Julian
Weitere Kostenlose Bücher