Black Bottom
Fuhs drehte sich auf dem Klavierschemel, auf den der Fotograf ihn für seine Aufnahmen gesetzt hatte, herum und schüttelte den Kopf. Er zog die Augen zu Schlitzen zusammen und bog die Mundwinkel nach unten, zerstörte die Grimasse dann mit einem sarkastischen Lächeln. Er breitete die Arme aus.
»Meine Güte ⦠wer profitiert? Sehen Sie sich doch mal um in dieser Stadt; die Tanzlokale erleben doch sowieso nur noch ein letztes Aufflackern in einer jahrelangen, immer schlimmer werdenden Krise. In dieser Stadt und in dieser modernen Welt sterben Menschen mitten unter uns an Hunger. Menschen sind arbeitslos, Menschen werden auf der StraÃe totgeschlagen, weil sie eine andere politische Meinung haben als ihre uniformierten Widersacher. Die Femina muss nicht eigens in den Ruin getrieben werden â wir ALLE schlingern auf den Ruin zu, und er ist ebenso wirtschaftlich wie politisch oder kulturell.«
Er hatte sich in Rage geredet, räusperte sich und sprach ruhiger weiter.
»Entschuldigen Sie. Ich will mich nicht so aufregen über diese Dinge, und ich selbst habe es ja noch glücklich getroffen â wenn ich mal das Zeitliche segnen sollte, möchte ich es jedenfalls nicht auf der StraÃe unter Naziknüppeln oder verhungernd im Armenhaus tun, sondern schon da, wo ich als Bandleader hingehöre: in einem Smoking, auf der Bühne!«
Der Reporter der
Vossischen
leckte sich aufgeregt die Lippen; er schien genau das zu bekommen, was seine Leser gerne hören wollten â Fatalismus und Durchhalteparolen, schwarze Zukunft und den Glamour eines teuren Abendanzugs. Julian hatte dem dramatischen Unterton seiner eigenen Worte nachgelauscht und sich langsam wieder zum Klavier gedreht. Er spielte nachdenklich die ersten Töne von »Calling«, einem seiner eigenen Lieblingstitel, der durch seine Behutsamkeit aus dem üblichen sinfonischen Geschmettere herausfiel und jetzt, am Klavier, zu einer fragilen Skizze der Verzweiflung wurde. Der Reporter der
Vossischen
zog sich ohne Abschiedsgruà zurück und bedeutete auch seinen zwei Kollegen, ihm zu folgen. Julian schüttelte den Kopf; um seine Betroffenheit oder die Beobachtungen eines Augenzeugen schien es den Männern nicht gegangen zu sein; diese Profis waren offenbar kaum zu erschüttern, was auch immer passierte. Wahrscheinlich würden seine paar Worte gar nicht erst gedruckt werden; vielleicht war es besser so.
BAHNHOF ZOO
Heinrich Liemann hatte die ganze Fahrt zurück im Speisewagen Magenbitter getrunken; trotzdem war ihm noch immer speiübel, als der Eilzug ParisâMoskau spätnachmittags neben der Avus durch den Grunewald schoss. Der Funkturm kam in Sicht, das Häusermeer Berlins, die Lichter der Gaslaternen. Der Zug machte eine weite Rechtskurve und ratterte ohne Halt quer durch Charlottenburg. Als er mit dem kleinen Handkoffer am Bahnhof Zoo aus dem Waggon kletterte, war er wackelig auf den Beinen, und diese Schwäche ärgerte ihn fast noch mehr als der Grund seiner hastigen Rückkehr. Heinrich Liemann war ein nervöser, umtriebiger Geist; einer, der sein Gegenüber mit einem glühenden Blick anstarrte, mit schmalen Lippen, einem ironischen Lächeln. Angebote prüfen, eine Chance erkennen und zugreifen â das war sein Credo, schon immer. Niemandem etwas schenken â wer schenkte ihm etwas? Als junger Mann war er noch vor dem Krieg aus der Kleinstadt Tarnow über Breslau nach Berlin gekommen, ein galizischer Jude, der â verbittert von einer Jugend in Armut und Gewalt â hier in der Millionenstadt mit seinem Bruder Josef das Glück suchte, der sich unbedingt nach oben strampeln wollte, nach ganz oben. In Tarnow war ihnen die Welt zu eng geworden, da konnten sie nichts werden, wenn sie nicht als Landmaschinenvertreter über die Dörfer ziehen wollten, um die Bauern übers Ohr zu hauen. Berlin hatte sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen â das hatte Berlin noch nie getan, bei niemandem. Aber Josef und er hatten sich durchgebissen. Ein kleines Schmucklädchen hatten sie betrieben in der MauerstraÃe, ein kleines Café, schlieÃlich die Libelle in der JägerstraÃe. Die Libelle war etwas Besonderes gewesen, ein kleiner Tanzpalast, holzgetäfeltes Quadrat, auf dem sich die Tanzverrückten drängten, und je wilder die Musik gewesen war, umso mehr Leute waren gekommen, und getrunken hatten sie alles, was die Bar hergab, Bier und Wein und
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