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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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einem morphiumsüchtigen Richter freigesprochen worden war und dem Lehmann letzten Herbst angekündigt hatte, dass er ihn umbringen würde, wenn er noch einmal östlich von Spandau den Kopf aus der Deckung nahm. Und irgendein blöder Bauer aus der Provinz, der lautstark protestiert und seine guten Beziehungen zu irgendeinem dieser neuen NSDAP-Reichstagsabgeordneten beschworen hatte und dem Leh mann dringend beibringen wollte, dass genau diese Art von guten Beziehungen hier unten in der Hölle einen feuchten Scheißdreck wert waren.
    Bis zum Abend hatten sie dreihundert Karteikarten mit Personenbeschreibungen. Fräulein Wunder, wie üblich pikiert von den blutigen Hemden der beiden Herren, hatte sie den ganzen Nachmittag über schon durchnummeriert und mit den notierten Standorten im Saal in einen der großen Grundrisse eingetragen, die Belfort aufgetrieben hatte.
    Lehmanns Kollege schrieb Notizen an den Rand des Plans, machte Fragezeichen hinter Standortbeschreibungen, markierte Akteure, die er für wichtig hielt.
    Â»Wo waren Sie selbst eigentlich, als das Ding hochging?« Belforts Stimme klang beiläufig, aber Lehmann hatte schon den ganzen Tag auf diese Frage gewartet und grinste nickend.
    Â»Wo haben Sie mich denn getroffen, Kollege? Auf der Straße. Die Kollegen in der Mordkommission – da hatte ich einen Wagen abzuliefern – hatten kein kaltes Bier mehr, da habe ich einen Bummel gemacht, um in der Femina eins zu trinken. Bevor ich reinkam, ging das Ding hoch.«
    Belfort quittierte die Erklärung mit einer einzigen, kaum sichtbar hochgezogenen Augenbraue, und Lehmann, der auch eine Frage hatte, legte nach.
    Â»Aber Sie selbst – Sie waren zum Arbeiten da. An was? Einem Fall? Einem Hinweis?«
    Jetzt gab Belfort der Augenbraue jeden Platz, den seine kalte, blasse Stirn bot. Er wies mit einer kargen Geste auf den mit Notizen gefüllten Grundriss.
    Â»Meine Güte, Lehmann … Halten Sie das da für meine einzige Informationsquelle, das Geschwafel von ein paar Wagenladungen Abschaum?«
    Sándor sog die Luft ein; das Wort »Abschaum« kam in seinem Wortschatz nicht vor.
    Â»Soll das heißen, dass Sie vor dem Anschlag schon wussten, dass etwas passiert?«
    Belfort fächerte die Karteikarten auseinander, schob die eng vollgeschriebenen Karten dann wieder zu einem kompakten Stapel zusammen und klatschte das Paket auf den polierten, linoleumgezogenen Stahlschreibtisch. Er echote:
    Â»Dass etwas passiert? DASS etwas passieren muss, wenn in einem dieser Vergnügungstempel die Negertrommel geschlagen wird, versteht sich ja wohl von selbst. Ein paar Hundert Taschendiebe, Homosexuelle, Huren, sexuelle vertierte Individuen auf einem Haufen, gewiefte jüdische Geschäftemacher, die die Orientierungslosigkeit unserer Jugend mit Alkoholverkauf und schamlosen Eintrittspreisen ausnutzen: Dass da was passieren muss, ist ja wohl keine Überraschung. Dass man da für polizeiliche Überwachung sorgen muss, solange diese Kaschemmen nicht verboten sind, versteht sich von selbst.«
    Der Fernsprecher schepperte. Fräulein Wunder ging ran, hielt dann die Hand an die Sprechmuschel und fragte in den Raum:
    Â»Plötz will wissen, ob welche dabehalten werden sollen von den Vernommenen oder ob alle freigelassen werden.«
    Lehmann drehte sich zur Sekretärin herum, aber Belfort ordnete schon mit schneidender Stimme an:
    Â»Hier wird freigelassen, wen ICH freilasse.« Er schlug mit der Faust auf den Karteikartenstapel und ergänzte:
    Â»Und ich habe heute keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Das ganze Pack bleibt über Nacht!«
    Lehmann schüttelte missbilligend den Kopf.
    Â»Auf Staatskosten Übernachtung mit Frühstück? Fuffzig Mann?« Belfort blickte eisig zu ihm herüber, stand mit breit gespreizten Beinen im Raum, die Pose eines Anführers, eines Leitwolfs.
    Â»Haben Sie eine billigere Lösung? Mir würde auch spontan eine einfallen, aber die würden sie wahrscheinlich ebenso wenig gutheißen, Sie Menschenfreund.«
    Ãœberm Dom ging die Sonne unter, eine fleischig rote Kugel in den grauen Rauchschichten über der Stadt, dem Qualm aus den Fabrikschloten, den Heizkesseln der Dampfboote. Ein Expresszug auf dem Weg nach Moskau rollte mit kreischenden Stahlfahrgestellen und langsam wie eine Beerdigungskutsche am Polizeipräsidium vorüber; durch die erleuchteten Fenster konnte man Momentaufnahmen der

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