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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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eigene Klarinette auch nur berühren lassen. Da war Sándor zwölf und schon unsicher, ob er lieber die schlanke, kühle Klarinette angefasst hätte oder die weniger schlanke, aber ebenfalls kühle Isolde – beides blieb lange ein Traum, aber beim zwei Jahre währenden Zu sehen lernte er viel über das Klarinettenspiel und ein bisschen was über Isolde. Irgendwann durfte er es dann selbst ausprobieren. Beides.
    So hatte das mit der Klarinette angefangen; Sándor streifte den Weltkrieg nur sehr kurz, schnitt auch die Kriegsgeschehnisse vor allem auf seine musikalischen Erlebnisse hin zurecht und erzählte in schillernden Ausschmückungen, weil Bella alle Beteiligten kannte, von seiner bisherigen Laufbahn mit den »Follies«, ohne zu erwähnen, wie er Julian kennengelernt hatte damals als Bewacher des Schmuggelgutes im Westhafen.
    Bella hatte still zugehört, und sie hatten ein paar Schnäpse getrunken, während er sprach. Im Raum war es wärmer geworden, oder glaubte er das nur? Auch Bella hatte ein gerötetes Gesicht, und er hatte sich beim Sprechen zurückgelehnt, um sie in Ruhe ansehen zu können, den modischen Kurzhaarschnitt, den wachen, herausfordernden Blick, der jetzt etwas schimmernder und weicher geworden war, und den kleinen Mund, der sich so ironisch und abschätzig verziehen konnte, wenn seine Besitzerin Wert darauf legte. Doch augenblicklich war Ironie bei Bella nicht auf dem Spielplan, stattdessen stand sie gravitätisch und ein bisschen unsicher auf und umrundete den Tisch mit der Schnapsflasche.
    Â»Vom Arbeiterbengel zum Jazz-Solisten … Wirklich, ich bin beeindruckt. Höchste Zeit, dass wir unter Kollegen das ›Du‹ besiegeln, meinst du nicht auch?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie neben ihm in die Hocke, schüttete sein Schnapsglas randvoll, stieß mit der Flasche daran an und gab ihm einen weichen, warmen, nach Schnaps und Nähe und Frau schmeckenden Kuss.
    Sándor konnte sich durch eine Horde angreifender SA-Männer boxen, und bei der kleinen Isolde und vielen nach ihr – auch bei der unmaskierten Kellnerin im Moka Efti – war er meist derjenige, der zugriff, doch von dieser Attacke war er überrascht und überwältigt, und in das Gefühl, endlich mit dieser Frau, mit Bella, genau das Richtige zu tun, mischte sich das plötzliche Kitzeln seines falschen Schnurrbarts, der von ihren weichen Lippen seitlich an seiner Nase vorbeigedrückt wurde, von der Wange rutschte und auf den Boden des Bordellkahnes fiel. Sándor fluchte reflexartig; Bella sprang auf, und er wühlte mit roten Ohren unterm Tisch nach dem verdammten Ding.
    Als er wieder hochkam und – mit dem Schnurrbart unter der Nase und in der albernen Hoffnung, nicht entdeckt worden zu sein – quer über den Tisch Ausschau nach Bella hielt, saß sie ihm gegenüber wie ein Mann, mit ausgebreiteten Beinen, in die Seite gestemmten Armen, kerzengeradem Rücken und herausforderndem Blick. Unter ihrer kleinen Stupsnase prangte wie eine groteske Karikatur seiner selbst ein zweiter roter Schnurrbart, den er so-fort als seinen eigenen erkannte, den er gestern Abend im Gerangel mit Jenitzky verloren hatte.
    Â»Wirklich, ich finde dich ja ganz imposant mit diesem Ding unter der Nase«, schnarrte Bella mit einer blödsinnig männlich klingenden Stimme, die die Rs rollte, »aber wie viele von diesen Stubenbürsten hast du noch zu Hause? Oder bist du etwa der Alleinerbe einer Schnurrbartfabrik … und musst diese schmucken Borsten jetzt ganz alleine auftragen?« Sie prustete laut los, zeigte lachend auf Sándor, der mit rotem Gesicht seinen Schnurrbart von der schwitzenden Oberlippe gerissen hatte, und verkündete dann außer Atem: »Ich fürchte, deine Geschichte musst du noch mal neu erzählen … aber vollständig, wenn ich bitten darf!« – und umrundete den Tisch, um ihn ein zweites Mal zu küssen, länger als zuvor, viel länger.
    Ein diesiger Morgen über dem Tiergarten; am Ufer des Land-wehrkanals standen Fischreiher, wie Hinweisschilder ins Ufer gesteckt, und zwei Radfahrer mit Strohhüten auf den Köpfen fuhren auf einem Tandem vorbei. Sándor sah ihnen nach, als sie über den Kiesweg davonstrampelten, wie Zwillinge sahen sie aus in ihrem ulkigen, gestreiften Sportdress, und er hatte keinen Zweifel daran, dass die Schnurrbärte dieser Männer im Unterschied zu

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