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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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Stadtplan Berlins aufgezeichnet, ein Stadtplan der verschwiegenen Wege, den er benutzte, ohne nachzudenken, wann immer Unsichtbarkeit geboten war.
    Deshalb konnte er sich nach dem Angriff der SA mit Bella unbehelligt vom Ort des Geschehens entfernen, und Bella selbst schien die Sprache verloren zu haben, ein ungewohnter Zustand bei ihr, und ging gefasst, aber stumm neben ihm her.
    So passierten sie in dieser gewalttätigen Juninacht mehrere Höfe zwischen Nürnberger Straße und Tauentzien, überquerten die Verkehrsachse an der schmalsten, lichtlosesten Stelle und strebten über einen langen Hausflur, eine Automobilgarage in einem der Wohnblocks und schließlich über einen schmalen Gang zwischen zwei Baracken des Zoologischen Gartens auf den Tiergarten zu. Es roch nach Kamelen und Raubtieren, und sie drückten sich an der Villa des Zoodirektors Heck vorbei und stießen dahinter auf den dunklen Landwehrkanal, dem sie westwärts bis hinter die Tiergartenschleuse folgten.
    Genau an dieser Stelle war im Januar 1919 die Leiche von Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden, die Freikorpssoldaten vorher zwei Ecken weiter beim Abtransport aus dem Hotel Eden erschossen hatten. Sándor war damals noch kein Polizist gewesen; eine Polizei im heutigen Sinne hatte es damals gar nicht gegeben. Die kaiserliche Polizei war in Auflösung begriffen und zunehmend von militärischen Einheiten ersetzt worden, mit denen Reichskanzler Friedrich Ebert die Gefahr eines kommunistischen Umsturzes bekämpfen wollte. Erst im Frühjahr 1919 hatte Gustav Noske, Eberts Militärexperte, kasernierte Heeresabteilungen und Freikorpsverbände zur Sicherheitspolizei zusammengefasst; einer wüsten Truppe aus Frontsoldaten, Freikorpslern und anderen unsicheren Kantonisten mit sehr unterschiedlicher Bewaffnung, die aktiv in der Politik mitmischte und von der heutigen Polizei weit entfernt war.
    Andererseits: Wie neutral war die Polizei von 1930? Sicher, Bernhard Weiß, den Goebbels »Isidor« nannte, hatte die Vision einer Polizei im Bürgerauftrag, einer neutralen Instanz, unvereinnahmbar von den Geschehnissen in der Politik, auf der Straße. Sándor spuckte aus. Wirklich vorgegangen wurde seitens der Polizei nicht gegen die braunen Truppen; die Verbote wurden nur halbherzig durchgesetzt, und spätestens seit Belforts Auftreten in seiner Dienststelle war ihm klar, dass auch intern, in der höheren Bürokratie, ein Wandel eingesetzt hatte, und keiner zum Guten. Schon deshalb war es besser, nach der Lokalschlägerei in der Nürnberger Straße gar nicht erst auf die Schupos zu treffen, die seine Personalien aufgenommen und weitergeleitet hätten. Weitergeleitet auch in das sensorische, nervös zitternde Netzwerk von Belfort, der seine eigene Theorie von den Vorkommnissen in der Musikerszene rund um die Femina hatte und fieberhaft nach Beweisen suchte. Aus diesen Ermittlungen musste er sich selbst heraus halten – und Bella erst recht. Ihr Gesicht hatte, vielleicht durch das energische, lautlose Gehen, seine Farbe wiedergefunden, und ihr Mund hatte sich zu einer grimmigen Grimasse verzogen.
    Bella hatte den ersten Schreck überwunden und wäre am liebsten umgekehrt, um sich erneut in die Auseinandersetzung zu stürzen und den Radaubrüdern zu zeigen, auf welcher Seite des Tresens von Mutter Fuhs sie stand. Aber daran war natürlich nicht zu denken.
    Stattdessen hatten sie jetzt ein paar schmale Frachtkähne erreicht, die vis-à-vis vom Gartenufer unterhalb der Schleuse unter Trauerweiden lagen und verlassen aussahen. Doch das waren sie nicht. Zumindest konnte Bella, die hinter den breiten Schultern dieses sonderbaren Klarinettenspielers mit den blonden Locken einen schmalen Treidelpfad entlangging, an einem der Kähne eine nur schwach flackernde Blendlaterne ausmachen. Genau auf dieses dürftige Licht strebte Sándor Lehmann zu, und Bella, die keine Ahnung hatte, worauf sie sich da eingelassen hatte, war sich sicher, dass er diesen Weg nicht zum ersten Mal ging.
    Ãœberhaupt hatte der Bursche eine Zielstrebigkeit, die Bella erstaunte und gleichzeitig ärgerte. Die Herren Mitmusiker hatte sie als oberflächliche Witzbolde kennengelernt, die nur auf der Bühne für Minuten wie schlafwandelnd sie selbst wurden; die Bandleader waren kaum besser, unermüdliche Spezialisten ohne jedes über die Musik hinausgehende Interesse. Dieser hier, Lehmann, war viel

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