Black Bottom
Kneipentisch, Tresen und alles mögliche andere benutzt wurde. In einem Einbauschrank kramte sie nach Gläsern, holte einen Kanten Brot und Schweineschmalz heraus und eine mächtige, halb leere Flasche Schnaps. Am bauchigen Glas machte sie mit einer unter ihrem Rock hervorgezauberten Fettkreide einen dicken blauen Strich, der die Füllhöhe markierte, dann deutete sie mit dem Daumen hinter sich zum seitlich in der Schiffsschräge abgetrennten Separee und gab Sándor ein paar Anweisungen. Erneut hatte Bella den Eindruck, als hätte ihr zielstrebiger Entführer â oder Retter? â hier nicht zum ersten Mal ein Versteck im Herzen der GroÃstadt aufgesucht, und als die alte Bordellbesitzerin schlieÃlich ebenfalls in die Privatgemächer verschwunden war und sie Sándor am Kapitänstisch gegenübersaÃ, hatte sie die beiden Schnapsgläser halb voll gemacht und ihm seins rübergeschoben auf seine Seite des verbogenen alten Holztisches. Er hatte Bella mit einer diebischen Freude, mit einer wahren Verschwörermiene angesehen wie ein Bruder, der eben beim Versteckspielen ein auÃerordentlich gutes, ein sicheres Versteck entdeckt hatte â und das war es ja ohne Zweifel auch. Also hatte sie milde gelächelt, den Schnaps mit einem einzigen, entschlossenen Schluck heruntergekippt und gesagt:
»Und wer sind Sie?«
Sándor war das Lügen gewohnt, obwohl er selbst es nicht »Lügen« genannt hätte, sondern ⦠er hatte noch nie darüber nachgedacht, wie er es genannt hätte. »Sich eine Geschichte machen« vielleicht, »ein bisschen was erzählen« (und vieles andere nicht). Ihm selbst kam auch der sachte schaukelnde Kahn mit seiner roten Buglaterne und dem plüschigen Innenleben nicht romantisch vor, nicht mal anrüchig: So verdienten Menschen ihr Geld; manche Fabrikarbeiterin musste sich weit mehr verbiegen und schinden für ihr Brot, wenn sie überhaupt noch Arbeit hatte. Die Puffmutter und ihre beiden »jungen Anvertrauten«, wie sie sie nannte, hatten hier am Gartenufer im ausrangierten Kahn eines Kohlenhändlers ein kleines Geschäft aufgemacht; ein Geschäft, das auf Verschwiegenheit basierte und auf sorgfältiger Auswahl der Männer, die hier als Kundschaft hereingelassen wurden. Krach musste vermieden werden, besoffenes Herumgrölen konnte das ganze Geschäft gefährden, aber solange alles in Freundlichkeit und in Ruhe vor sich ging, hatten alle etwas davon. Die Polizei durfte nichts erfahren, und als die Polizei, nämlich Sándor, doch davon erfahren hatte â die Geschichte mit der Wasserleiche und dem chinesischen Morphiumring, 1926 oder 27 â, hatte sie ihn ins Vertrauen gezogen und ihn gebeten, die Sache weiter laufen zu lassen. Und weil schon in seiner Kindheit im Wedding nichts so wichtig gewesen war wie ein paar Freunde an unerwarteten Ecken, hatte er alles für sich behalten und das Bordellboot stattdessen für eine Woche flussabwärts ankern lassen, während die Schutzpolizei mit Hunden das Ufer absuchte nach einer Wasserleiche, die alle gesehen hatten und die dann verschwunden war.
Aber das war eine ganz andere Geschichte gewesen; heute musste er seine eigene vor Bella auf den Holztisch legen. Also erzählte er ihr ein bisschen was. Von der Jugend im Wedding, von dem Wunsch, verdammt noch mal herauszukommen aus dem Hunger und dem Elend. Der Hoffnung, vielleicht seiner Mutter im Alter mal ein Stück Sahnetorte im Kempinski am Kuâdamm spendieren zu können. Und wie er mit der Musik in Berührung gekommen war â in einem Arbeiter-Schalmeienorchester, eigentlich der banalsten Form der Blasmusik, die vorstellbar war; mit einer geblasenen Hupe, die mit der Schalmei des Mittelalters nicht viel gemeinsam hatte. Wahrscheinlich hatte er mit groÃer kindlicher Inbrunst in diese blecherne Tröte geblasen; vielleicht hatte der Orchesterleiter auch den Eindruck gewonnen, dass der kleine Sándor zu selbstvergessen und undiszipliniert eher seine eigene Musik machte, als sich den Exerzitien und Ritualen der Schalmeien-, Trommler- und Pfeiferkorps unterzuordnen; jedenfalls durfte er irgendwann immer mittwochs und sonntags einem Klarinettenlehrer zusehen, der am besseren Rand des Weddings, eigentlich schon in Pankow, Musikunterricht gab. Zusehen, nicht selber spielen, für ein eigenes Instrument fehlte natürlich das Geld, und die kleine Isolde hätte ihn nie ihre
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