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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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ab, ging ans Klavier, ließ den Kopf auf die Brust fallen und überlegte eine halbe Minute. Schließlich berührten seine Hände die Tasten, ein Aufatmen ging durch die Band, und Julian spielte die ersten Takte von Billy Bartholomews »Huggable Kissable You« mit akzentuiert perlenden, fahrig getupften Anfangsakkorden; ein ironischer, trauriger Abgesang, der erst mit Sándors Klarinette und dem gezupften Kontrabass, der schließlich auch den Schlagzeuger Charlie und die Blechbläser aus ihrer Lethargie weckte und zu seinem Swing fand.
    Bella hatte trotzig mitgewippt, dann mit einem wehmütigen Lächeln und traurig hochgezogenen Augenbrauen aufgeblickt. Und gesungen, ganz leise und bescheiden, eine zögernde, bittende Kleinmädchenstimme, die dem sanft swingenden Song eine Intensität gab, wie sie Sándor und die übrigen Männer um Julian Fuhs in dieser Kapelle seit Julians ersten, rebellischen Anfangsjahren nach seiner Rückkehr aus Amerika nicht mehr gehört hatten.
    Während die Band weiter probte, war Sándor Lehmann mit der Straßenbahn rüber zum Alexanderplatz gefahren; die 62 nach Weißensee schepperte am Tiergarten entlang, und er stand auf der Plattform und hielt den Kopf in den Fahrtwind, um wieder klar zu werden. Das nutzte wenig, es war ein heißer Tag, er hatte Hunger und träumte von Hering und Pellkartoffeln, aber die 62 war nicht der Expresszug von Paris nach Moskau, sie hatte keinen Speisewagen, und die Würstchenverkäufer und Stullenschlepper, die morgens an den Haltestellen die wenigen Arbeiter ohne eigenen Henkelmann oder eigenes Stullenpaket versorgten, hatten längst Schluss gemacht und klapperten die Straßenbahnwaggons nicht mehr ab.
    Manchmal wirkte Fräulein Wunder wie eine selbstzufriedene Hausfrau, und heute war so ein Tag. Das Büro, das Sándor nun schon ein paar Monate mit Belfort teilte, wirkte ungewohnt lichtdurchflutet – vielleicht machte ihn auch nur der hartnäckige Kopfschmerz irgendwo hinter seinen Augen lichtempfindlicher als sonst –, und die Wunder schien den ganzen Vormittag in Bewegung gewesen zu sein und eben nur noch mit flinken Händen die letzten Ordner geradezurücken, einen Fleck auf der Glasscheibe der hölzernen Trennwand wegzuwischen, als er eintrat. Sándor blieb in der Tür stehen, stemmte die Fäuste in die Seite und sah sich das häusliche Bild an, das die emsige junge Frau da an diesem profanen Ort der Büroarbeit und des Verbrechens abgab. Wo war Belfort? Für einen Moment durchhuschte Sándor die Hoffnung, der verhasste Kollege wäre gestern im Anschluss an seinen Fehltritt noch geschasst worden oder hätte seine auf gewühlten Nerven durch einen mehrwöchigen Aufenthalt an einem fernen Kurort, ach was, einem fernen Kontinent beruhigen müssen, aber im Grunde war ihm klar, dass einer wie Belfort durch einen derartigen Misserfolg eher angestachelt wurde, als gestoppt werden konnte. Tatsächlich verkündete die Wunder, die das Büro wie für einen bevorstehenden Staatsbesuch herausputzte, mit Erleichterung und stolz, dass Belfort schon ganz früh am Morgen – »zu nachtschlafender Zeit« – einen neuen Verdächtigen ins Präsidium geschleppt und soeben nach der erkennungsdienstlichen Behandlung mit der Vernehmung begonnen habe. Der Kollege hatte ganz offenbar die Nacht durchgearbeitet und schien die Schlappe partout auswetzen zu wollen. Wen hatte er nun schon wieder festgesetzt? Sándor Lehmann hätte eins zu hundert gewettet, dass es ein Jude war. Also ließ er sich erst mal eine große Kanne Kaffee bringen, trank zwei Tassen – gegen jede Gewohnheit mit acht Löffeln Zucker – und machte sich auf den Weg in die Katakomben.
    Â»Der Denkfehler war«, Belfort sah übernächtigt aus, aber keineswegs niedergeschlagen oder besiegt, »der Denkfehler war zu glauben, dass der dicke Jenitzky der Täter sein müsse, bloß weil er selbst einen enormen Nutzen von der ganzen Chose hatte. Dabei beruht doch das gesamte jüdische Unternehmertum auf diesem Prinzip: Nutzen aus dem Schaden anderer zu ziehen – es ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wenn wir jeden festnehmen würden, der so handelt, hätten wir bald alle Juden der Stadt hier in unseren Zellen. Eine Schweinerei wie den Gasanschlag traue ich ihm immer noch zu; diesmal war er’s nicht, das muss ich zugeben; aber egal: Man sieht

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