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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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schauspielerte. Sándor ächzte, sah wieder ihren weißen Körper auf dem plüschigen Bett im Bauch des Schiffes am Landwehrkanal. Hörte ihre Stimme ganz nah, die beschwörend, wie im Fieber, etwas in sein Ohr flüsterte, monotone Silben, langsam schneller werdend, schwerer atmend, mit kollerndem Lachen unterlegt, leisen Schreigeräuschen.
    Konnten Frauen so schauspielern? Er konnte es nicht. Sándor blickte in eine Schaufensterscheibe, sah sein blasses, zerfurchtes Gesicht und zog eine Grimasse, riss das Maul auf, rollte mit den Augen. Es war nicht zum Fürchten, es war lächerlich.
    Â»Meene Jüte, Lehmann, übste für’n Filmufftritt? Was soll’n det werden, Noswerado, det Phantom von Opa?«
    Sándor sah zur Eingangstür und bemerkte, dass er das Fenster einer Eckkneipe unweit der Bötzow-Brauerei für seine mimischen Entgleisungen benutzt hatte, eine kleine Bierschwemme namens Bötzows Tante, die er gut kannte. Wahrscheinlich hatten seine Füße ihn automatisch hierher geleitet wie einen Brauereigaul auf dem Heimweg. Bötzows Tante selbst, eine hünenhafte Gestalt, die eigentlich Alfons hieß und nur für ihre Tresenarbeit einen Pailettenrock und eine sehr kühne Perücke trug, winkte ihn herein.
    Â»Hier drinne is Tonfilm, Lehmann, da kannste det Grimassieren gleich noch mit’n paar Brülljeräuschen untamalen.«
    Aber Brüllen wollte Sándor heute gar nicht mehr, nur noch saufen, und er ließ die Tante den grünen Escorial mit doppelten Wodkas verlängern, weil er vom Zucker sonst solche Kopfschmerzen bekam.

DIE BOMBE MIT DEM SCHNURRBART
    Es war eine Eigenart aller Nachtschwärmer, dass sie – so viel sie auch voneinander wussten, so tief sie auch den Geheimnissen der anderen auf die Schliche kamen – Stillschweigen bewahrten. Wer diese Stadt bis in ihre dunkelsten Winkel kennengelernt hatte, wer Menschen in diesen Winkeln aufgestöbert hatte, die am Rande jeder Existenzgrundlage dahinvegetierten, zu schwach für Verbrechen und zu zäh zum Sterben, der konnte sich nicht mehr empören, weil sein Vorrat an Empörung längst erschöpft war. Wer nachts um vier in verzweifelten Kaschemmen das Treibgut und die Wracks um eine kleine Lache Alkohol sitzen gesehen hatte – Kinder, die von ihren Eltern missbraucht und verhökert wurden, geschlagene Frauen und gedemütigte, jedes Stolzes beraubte Männer –, der plauderte niemandes Intimitäten aus, weil auch ohne Tratsch und üble Nachrede und Verrat genug von alldem in der Welt war.
    Sándor Lehmann konnte sich betrinken wegen ihres Misserfolges und seiner Zweifel an Bella und ihren Motiven, aber er hätte nie, nicht im betäubendsten Vollrausch, dem Nebenmann bei Bötzows Tante auch nur ein Sterbenswörtchen darüber erzählt, warum er sich hier um den letzten klaren Gedanken soff.
    Sándor war sich sicher, dass Bella nicht anders war. Er stellte sich vor, wie sie – nachdem die Anwälte ihren Vater sicherheitshalber in ein Sanatorium und in die Obhut guter Ärzte expediert hatten und es für sie nichts weiter zu tun gab – auf etwas müden, wackeligen Beinen die große Treppe ins Foyer hinunterstakste und sich mit einem suchenden Seitenblick nach ihm umschaute. Oder ging die Fantasie mit ihm durch? Er sah sie vor sich, wie sie sich vom knurrigen Pförtner eine Droschke rufen ließ (»Ick bin hier nich’ die Taxizentrale, junge Frau, aber weil Sie’s sind, mach’ ick mal ’ne Ausnahme«) und ohne Ziel eine ganze Weile in der Stadt herumfuhr, an Freunde dachte, entfernte Bekannte, an »Onkel«, denen sie ihr Herz hätte ausschütten können – und dann doch einfach nur schweigend nach Hause fuhr. Wie er selbst. Diese Gemeinsamkeit berührte Sándor fast mehr als die Erinnerung an die zusammen verbrachte Nacht, mehr als die Enttäuschung über Bellas Enthüllungen, das Zusammenbrechen aller Schlussfolgerungen und Verdachtsmomente.
    Mutter Fuhs war alles andere als diskret, und so kam die ganze Geschichte doch zutage. Mutter Fuhs hatte ihre Ohren überall, »die Hände an der Kristallkugel«, spottete Julian gern – aber nein, es waren keine geheimnisvollen spiritistischen Fähigkeiten, die die kleine Frau mit dem Körper einer Matrone und den scharfen, spöttischen Augen eines Raubvogels den Kontakt halten ließ zu allem, was ringsum geschah.

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