Black Bottom
Es war Offenherzigkeit, und wer das Herz offen lieÃ, der erfuhr alles, was er erfahren wollte. Von jedem. Womöglich waren es Sándors Kollegen Hansen, Schmitzke oder sogar der dicke Plötz gewesen, die von den Vorkommnissen am Alexanderplatz etwas durchsickern lieÃen; dass sie selbst direkt mit Mutter Fuhs gesprochen hatten â und wo denn auch? â, war unwahrscheinlich; aber schillernde Geschichten wie diese machten schnell die Runde. Ein Kantinenkoch in der DircksenstraÃe mochte sein Gemüse in der Arminiusmarkthalle einkaufen wie Mutter Fuhs auch. Oder der Protokollschreiber des Verhörs, der zwar während der Prügelorgie selbst hinausgeschickt worden war, aber lang genug dabei war, um sich einiges zusammenzureimen, hatte seiner Frau etwas erzählt, einer Mittelschullehrerin, die als Jüdin zunehmenden Anfeindungen ausgesetzt war und nervlich angeschlagen im ärztlichen Wartezimmer in der RankestraÃe wartete, wo Hertha Fuhs die Glassplitterverletzungen an ihrem Unterarm neu verbinden lieÃ. Oder hatte Odetta, die knabenhafte Zimmerfee, die geräuschlos mit dem Staubwedel durch die honorige Anwaltskanzlei im bayrischen Viertel schwebte, ein Gespräch zwischen Anwälten belauscht, das sie nicht hätte mit anhören dürfen â Odetta, die Ziehtochter von Hertha Fuhsâ bester Freundin Else Goldfein? Je gröÃer eine Stadt war, je weiter ihre äuÃeren Enden voneinander entfernt waren, umso mehr rankwurzelartige Verbindungen entstanden, die eine Geschichte von einem zum anderen Ende transportierten; oft schneller als jede Depesche. Wie es genau geschehen war, lieà sich hinterher nicht mit Gewissheit feststellen, nicht mal für Sándor, der den daraus folgenden Aufruhr gern vermieden hätte.
Jedenfalls hatte es schon die Runde gemacht, als Bella am Vormittag des Kapellenwettbewerbs in Fuhsâ Keller zur Probe erschien. Es hatte die Runde gemacht, und Julian Fuhs war offensichtlich enttäuscht und verletzt. Was hatte der Bandleader in Bella gesehen, was hatte sie ihm versprochen, wie hatte sie ihn überzeugt, zu tun, was sie wollte, und der Teilnahme am Wettbewerb zuzustimmen? Sándor war jedenfalls über Julians heftige Reaktion erstaunt; während er selbst mit allen Anzeichen eines schweren Katers auf einem Barhocker klebte, machte der kleine Jazzkapellen-Chef seiner Sängerin eine regelrechte Szene, in der es um gebrochene Versprechen, Exklusivität und Manipulation ging. Normalerweise hätte sich Bella das wohl nicht gefallen lassen; sie hätte impulsiv und wortgewandt zurückgeschossen und für sich das Recht jedes Musikers reklamiert, sich seine Band selbst auszusuchen und zu spielen, mit wem sie wollte. Doch vielleicht hatte die gestrige Behandlung ihres Vaters ihr einen Schrecken eingejagt, vielleicht hatte sie gemerkt, dass es nicht um eine lustige Scharade ging, bei der sie mit pantomimischen Gesten und ein bisschen Gesang ganze Heerscharen von Männern nach Belieben durchs Leben dirigieren konnte, sondern um Leben und Tod, vor allem um Tod. Jedenfalls war sie schweigsamer als sonst, trotzig, und den Blicken der Männer, vor allem: Sándors Blick, das merkte er deutlich, wich sie aus. Als Julian geendet hatte, stieà sie nur ein kurzes »⦠und jetzt? Schmeià mich raus!« hervor, dann starrte sie wieder vor sich hin. Doch so leicht wollte Julian es ihr offenbar nicht machen; er blies sich auf und kanzelte sie ab mit einer Wut, die Sándor dem sanftmütigen Freund und Bandleader nicht zugetraut hätte.
»RausschmeiÃen? Allerdings, aber nicht heute, erst morgen. Heute singst du für uns, Goldvögelchen, und nicht auf dem Polizeirevier, sondern abends auf der Bühne in Papas Nepp-Schuppen. Du hast uns das eingebrockt, du hast Fud Candrix und Widmann hingelockt und wer weià wen noch alles ⦠und wenn du für DIE singen kannst, dann wirst du auch für uns singen, und so gut, wie du noch nie gesungen hast!«
Sándor reckte sich; wenn Julian sich weiter aufregte und gegen Bella handgreiflich wurde, würde er ihm eins auf die Nase geben müssen, und dann war sowieso alles verloren, und sie würden den miefigen Ãbungskeller zu Kleinholz machen.
Doch Bella nickte nur stumm, und Julian schnaubte noch ein paarmal vor sich hin und schüttelte den Kopf wie ein wütender Elefant â der kleinste, schmächtigste Elefant der Welt â, dann drehte er
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