Black Bottom
drittklassigen Radioorchester verstauben wollten und deshalb trotz Konservatorium und höchs ter Auszeichnungen lieber für ein paar Freibiere und einen Zehnmarkschein in einer Kellerkneipe Jazz machten â oder auf dem besten Weg waren, den Hot Jazz auch in den groÃen und klas sischen Häusern der Stadt salonfähig zu machen. Egon Kaiser war so ein Kandidat, ein Berliner Philharmoniker und Orchestermitglied der Staatsoper, der wie ein Trüffelschwein dem Hautgout des alten Niggerjazz nachspürte, um die wilden Zuckungen der Swing Kids für eine schon vielversprechend begonnene Karriere als Filmkomponist im Tonfilm zu adaptieren.
Irgendwo da vorn, in einer Ecke neben der Bühnentreppe, auf einer schwarzen Holzkiste voller Filmscheinwerfern sitzend, fand Sándor sie: Bella. Bella in Schwarz, mit blassem Gesicht, eine Zigarette rauchend. Sie hatte noch nie so ausgesehen wie heute; die Aufregung um ihren Vater hatte sie ernster und erwachsener gemacht, und Sándor merkte, wie ihm alle gestern Nacht im grünen Escorial ertränkten Gefühle gleichzeitig wieder hochkamen â tiefes Misstrauen, flammender Zorn und ein Sich-hingezogen-Fühlen, das mit der nächtlichen Eskapade im Bordellschiff noch keine Abkühlung erfahren hatte. Was hatte ihr gestriges Geständnis, mit dem sie ihren Vater bei Belfort herausgepaukt hatte, zwischen ihnen geändert? Und war sie wirklich nur die hilfsbereite Tochter, die mit bloÃer Sangeskunst den maroden Laden hier aus der Krise holen wollte â was für eine albern romantische Vorstellung! â, oder führte sie zur selben Zeit noch einen geheimen Krieg gegen die lästigen Mitbewerber am Tauentzien? Hatte vielleicht doch sie selbst die Gasbombe gezündet, als sie unmittelbar vor dem Attentat im groÃen Ballsaal gewesen war, den sie dann so eilig verlieÃ? Und hatte Hallstein doch deshalb
ihren
Namen in sein Notizbuch geschrieben?
Sándor wusste es nicht, und er blickte eine ganze Weile in das etwas müde, etwas traurige und doch gleichzeitig mutwillige und wie immer etwas spöttische Gesicht. Bella erwiderte seinen Blick, sah ihm eine kurze Ewigkeit in die Augen wie am allerersten Abend vor dem Anschlag in der Femina, dann schien ihr Blick sich zu umfloren, als wollte sie Tränen vergieÃen. Stattdessen lachte sie schallend los, zeigte mit der ausgestreckten Hand auf ihn und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Sándor, du â also dieser Schnurrbart, das Ding ist einfach zu komisch! Wie du bloà aussiehst!«
Sándor blinzelte; er konnte nicht mitlachen, heute nicht, dazu war der rote Schnurrbart ein zu bedeutungsvolles Indiz â das Wahrzeichen des Gasmörders, des Messermörders von Hallstein, des Mannes, den er heute Abend hier verhaften wollte. Sollte er Bella einweihen, konnte er es riskieren? Doch wenn sie selbst etwas mit den Anschlägen zu tun hatte â wo konnte er sie besser beobachten und zuverlässiger an weiteren Taten hindern als neben sich als Vertraute und Begleiterin?
»Bella, hör mir zu; wir haben heute keine Zeit zu verlieren. Es gibt Hinweise, dass der Gasmörder, auch wenn er nicht dein Vater ist, heute Abend noch mal zuschlägt. Hier drin, wenn der Laden rappelvoll ist.«
Bella erschrak, und das Erschrecken sah echt aus. Aber alles andere hatte auch echt ausgesehen.
»Und ⦠blast ihr die Sache ab?«
Sándor schüttelte unsicher den Kopf.
»Nein. So sicher sind wir uns nicht. Und wenn wir Glück haben und schnell sind, erwischen wir den Mistkerl ja auch schon, bevor die Bude voll ist. Ist dein Vater hier?«
Bella nickte resigniert.
»Natürlich. Ihr hättet ihn in Stücke hauen können â¦Â«
Sándor wollte einwenden, dass er an der Sache keine Schuld hatte, andererseits hatte er selbst die Falle gestellt, in die Jenitzky getappt war, also schwieg er, während Bella fortfuhr:
»⦠er wäre trotzdem hierhergekommen. Der alte Herr hat sich wieder aufgerappelt; er sieht noch ziemlich ramponiert aus, und der Arzt hat ihm ein starkes Schmerzmittel verschrieben, aber er lässt es sich nicht nehmen, alle Bands eigenhändig zu begrüÃen. Eben sind auch deine âºFolliesâ¹ angekommen, ich wette, Paps steckt mit Julian und den anderen in der Künstlergarderobe. Komm mit!«
Sie griff nach Sándor Lehmanns Hand wie ein spielendes Kind, und er hielt ihre Hand fest, eine kühle, sachliche
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