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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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unter dem Fahrersitz die stählerne Mechanik wie die Knochen eines gewaltigen, kaum zu bändigenden Tieres, und mit einem sonoren Brummen rollte der Wagen die Rampe herauf, musste aber zurücksetzen, weil die Ausfahrt von einem ebenfalls schwarzen Pferdewagen verstellt war, der in die Tiefebene hinunter wollte, um am Ausgang der Kata komben und Verhörzellen eine Zinkkiste in Empfang zu nehmen. Sándor fragte beim Pförtner nach und erfuhr, dass ein Untersuchungshäftling – »ein verfluchter Bombenbauer« – sich unmittelbar nach seinem Verhör in der Zelle erhängt hatte; ein dünnes, angstvolles Häufchen Elend namens Robert Schreyer, der seine beim Stottern aufgeregt hüpfende und zitternde Gurgel mit einem Streifen Hemdsärmel an einem Heizungsrohr für immer zugezerrt hatte.
    Dann war die Ausfahrt frei; Sándor Lehmann erhaschte noch einen Blick auf den mit dem dünnen Mann wohl nur schlecht gefüllten Zinksarg, dann katapultierte ihn der Bugatti in die schräg über den Alexanderplatz fallende Abendsonne und trug ihn an den zockelnden Straßenbahnen und bockenden Pferden vorbei, riss ihn im Zickzackkurs zwischen den vielen anderen, viel langsameren Automobilen hindurch mit Vollgas durch eine Stadt, die heute Abend einem großen, einem spektakulären Ereignis entgegenfieberte, dem Kampf der Jazzkapellen, einem modernen Tanz vergnügen, das die ganze Nacht dauern würde und alles aufbot, was in Berlin für diese aufregende neue Musik lebte und – Sándor gab dem Gaspedal im stahlblechverkleideten Boden des schweren Coupés noch einmal einen energischen Tritt mit dem Fuß – für diese Musik auch sterben würde, wenn er dem Wahnsinnstäter mit dem roten Schnurrbart und dem Klarinettenetui, seinem eigenen verfluchten Doppelgänger, nicht zuvorkommen würde.

KICKIN’ A HOLE IN THE SKY
    In der Friedrichstraße auffallen – das war nicht mal mit einem pechschwarzen 49er Bugatti ganz einfach. Allerdings hatte Sándor, der sich während der kurzen, aber halsbrecherisch schnellen Schussfahrt eine lederne Fahrerkappe über den windzerzausten Lockenschädel gezogen hatte, die er auf dem Beifahrersitz gefunden hatte, es auch nicht darauf angelegt. Er hupte sich durch das Gewirr von Pferdewagen, Handkarren, Automobilen und Omnibussen, bog ab, ließ den Wagen in der Mohrenstraße ausrollen und hielt an. Er sah in den Rückspiegel – ein Gewirr von Fußgängern, die kurz vor Ladenschluss mit Paketen und großen Papier tüten aus den Geschäften gestolpert kamen, als hätte die Wirtschaftskrise einen Bogen um diese eine Straße gemacht, aber keine bekannten Gesichter, die seinen bevorstehenden wundersamen Verwandlungsakt hätten beobachten können. Also klebte er sich mit einem teuren französischen Sparadrap-Heftpflaster den absurd großen roten Schnurrbart unter die Nase, stopfte die Lederkappe ins Handschuhfach und stieg aus. Die kleine Aktentasche, aus der er sein Klarinettenfutteral nahm, ließ er im Wagen; und weil er in Eile war, machte er sich nicht die Mühe, das schwere Wachstuchverdeck über den offenen Bugatti zu ziehen, sondern ging einfach fort. Jeder Depp von Dieb würde wissen, dass man einen 49er Bugatti nicht klauen konnte. Wenn doch, würde er zwei Telefonate brauchen, um den auffälligen Wagen wo auch immer wieder aufzustöbern.
    Sándor Lehmann betrat das Café Jenitzky von hinten durch den Künstlereingang; ein Weg, den er zuletzt ohnmächtig und in Gegenrichtung in den Armen von ein paar Schutzmännern zurückgelegt hatte. Vorne war ohnehin noch geschlossen, das heißt, die mächtigen Schwingtüren waren geöffnet, aber die Scherengitter waren noch geschlossen; so konnte das neugierige Publikum, das sich schon jetzt in großen Mengen auf der Straße vor dem Vergnügungstempel drängte, hineinsehen in den riesigen Saal, wo die Musiker auf der Bühne ihre Instrumente aufbauten, die Instrumente stimmten und eine Atmosphäre der Vorfreude und erregten Erwartung verbreiteten. Gleichzeitig hatten die Abendkassen bereits geöffnet, und ein Geschwader von ziemlich dürftig gekleideten Hostessen in Fantasieuniformen in Pink und Weiß mit Fliegerbrillen und aufreizenden Shorts verteilte Handzettel, auf denen die endgültige Programmfolge des Abends aufgelistet war. Sie las sich wahrhaftig wie Degeners
Wer ist’s?
, die

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