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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Keune
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definitive Liste der Prominenten aus Politik, Kultur, Sport und Wissenschaft. Jenitzky hatte es – mit ausufernder Reklame, Schmeicheleien oder unverhohlenem Druck – erreicht, dass alles, was in der Reichshauptstadt in Sachen Jazzmusik einen Namen hatte, heute Abend beim ersten öffentlichen Wettkampf der Kapellen dabei war. Popu läre Stehgeiger mit Swing-Appeal, veritable Big Bands, die unüberschaubare Schar der gestandenen Tanzorchester und ein paar kleine, wilde Hoffnungsträger aus dem Studentenumfeld, die vor allem die begeisterungsfähigen Swing Kids ins Publikum locken sollten: Auf diesem Programmzettel waren sie alle versammelt. Doch vor allem war das Programm, das auch alle zahlenden Besucher mit ihrer Eintrittskarte erhielten, gleichzeitig der anzukreuzende Stimmzettel, denn das war schließlich der große Aufmacher in allen heutige Zeitungen gewesen – der Hauptgewinn, die zehntausend Reichsmark, mit denen Jenitzky in den frühen Morgenstunden die beste Jazzband der Stadt prämieren würde, die Könige des Berliner Jazz, ausgewählt und gekrönt von einem dreitausendfachen, enthusiastischen Publikum.
    Sándor streunte durch den großen Saal und suchte nach den »Follies«, nach Bella oder Jenitzky selbst und registrierte dabei all die übrigen mehr oder weniger geschmackvollen Attraktionen, mit denen Jenitzky dem vergnügungswilligen Publikum die Reichsmark aus den Taschen ziehen wollte. Der unstrittige Höhepunkt war »Neptuns Boudoir«, eine auf einem samtroten Podest stehende, sehr große gläserne Badewanne, die eben mit einer abenteuerlichen Mischung aus Unmengen an billigem Schaumwein, viel rotem Sirup, einem Kanister billigem Fusel und – zwecks Namensfindung – einer halben Flasche Champagner gefüllt wurde, einem pompös als »submariner Champagnercocktail« annoncierten Bowlegesöff, in das kurz vor dem Öffnen der Tore eine nackte Nixe steigen würde, um sich möglichst aufreizend in dem knallroten Sud zu suhlen. Besonders behaglich war der Nixe diese Vorstellung allerdings offenbar nicht; alle paar Minuten hielt die nicht mehr ganz junge (und keineswegs nackte, sondern mit drei Jakobsmuschelschalen bekleidete) Nixe jedenfalls einen Fuß oder eine Hand in die sprudelnde Brühe und beklagte sich über die Badetemperatur oder das zu heftige Perlen der Kohlensäure. Nachher würden goldene Trinkhalme an das saugfreudige Publikum vermietet; die halbe Minute kostete eine Reichsmark, und Sándor schätzte, dass die Rüsselsäufer das halbe abendliche Preisgeld eingebracht haben würden, bevor es auch nur den muschelbedeckten Teil einer Brustwarze zu sehen gab.
    In der Nähe der Bühne begrüßte Sándor kopfnickend die Kollegen. Jenitzkys Techniker hatten zwei Wochen an der alten, ausgeleierten Drehbühne geschraubt, und jetzt war das klapperige Ding wie neu. Das Konzept war einfach und genial: Gleich drei komplette Orchesteraufbauten waren auf dem drehbaren Objekt aufgebaut; eine klassische Swingband mit einem mächtigen silbernen Schlagzeug und einem schwarzen Konzertflügel im Hintergrund, ein Bigbandszenario mit zwei Podesten für Backgroundsängerinnen und Blechbläser und eine fokussiert ausgeleuchtete Gesangsbühne mit einer kitschigen Bar-Attrappe, einem Hocker mit Mikro und Spotlight und einem einsamen, im Dunkel des Raums kaum sichtbaren Piano. Je nach Programmpunkt wurde die ganze Chose einfach gedreht, und jede auftretende Kapelle fand ohne große Umbaupause gleich alles vor, was sie für ihren Auftritt benötigte, und musste nur die Blas- und Saiteninstrumente selbst mitbringen.
    Sándor schlenderte weiter. Vor der Bühne fachsimpelten die Jazzmusiker; wieder und wieder stieg einer auf die Drehbühne, um argwöhnisch dem Konzertflügel ein paar Töne zu entlocken oder dem Lichtmeister oben im Gebälk über dem Saal noch ein paar Anweisungen für den eigenen Auftritt hinaufzubrüllen. James Kok und Jenö Fesca waren da; Dajos Béla trat heute unter seinem Pseudonym Clive Williams auf, weil er »sowieso bald in die Staaten rübermachen« wolle, »da es nur in Amerika für uns Russen noch sicher ist«. Neben den alten Selfmade-Jazzern wie dem berüchtigten Eric Borchard oder Ludwig Rüth gab es auch eine Menge aufregende »Fahnenflüchtige«; junge Talente aus der ernst hafteren Sparte, die nicht in einem

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