Black Box BER: Vom Flughafen Berlin Brandenburg und anderen Großbaustellen. Wie Deutschland seine Zukunft verbaut (German Edition)
Hin- und Herrechnen hilft in den seltensten Fällen. Wurde mit dem Bau dann erst einmal begonnen, ist es meist kaum mehr möglich, die Reißleine zu ziehen, und die Gremien müssen zähneknirschend nachlegen.
Eine Plage habe ich bisher noch nicht erwähnt, weil sie nicht auf das Bauwesen beschränkt ist. Ich meine die Plage des Wünschens. Der Oxforder Professor für Stadtplanung Bent Flyvbjerg bescheinigt den meisten Managern von Großprojekten eine fatale Neigung zu Lug und Trug. Um den Zuschlag für Bauaufträge zu bekommen, seien die Kosten ihres Vorschlags meistens geschönt und viel zu niedrig angesetzt. Politiker glauben ihnen nur zu gern, geht es doch meistens um Prestigebauten und wählerwirksame Spatenstiche. Projektmanager und Politiker leiden offenbar unter einem gewissen Hang zum Optimismus, nämlich vor lauter Visionen Schwierigkeiten bei deren baulicher Realisierung und daraus entstehende Kosten auszublenden. Nach FlyvbjergsBeobachtungen – er hat weltweit rund 260 Großprojekte verglichen – kostete jedes Großobjekt im Durchschnitt ein Drittel mehr als ursprünglich kalkuliert. Daher müsse auf die Anfangskalkulation als eine Art Optimismuszuschlag ein Drittel der kalkulierten Kosten aufgeschlagen werden. Im Falle des Hauptstadtflughafens verschwisterte sich der Hang zum Optimismus mit einem ausgeprägten Hang zum Wunschdenken.
Wunschdenken, Hang zum Optimismus, Realitätsverweigerung
Ja, mach nur einen Plan
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch ’nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Jonathan Jeremiah Peachum
(Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper )
Jonathan Jeremiah Peachums Skepsis gegenüber dem Pläneschmieden in seinem »Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens« ist durch nichts mehr gerechtfertigt als durch die schon erwähnten 286 durchgeführten Planänderungsanträge und 201 Anordnungen von Leistungen. In diesen Anträgen und Anordnungen verschaffte sich eine vermutlich lange unterdrückte Wunschdynamik Luft.
Es gab eine Zeit, da war es selbstverständlich, dass der Architekt ein Gebäude von Anfang bis Ende begleitete: von der Planung über die Bauausführung bis hin zur Einweihung, bei der er dem Bauherrn den Schlüssel übergab. Neun Leistungsphasen listet die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure für diesen Ablauf auf, von der Grundlagenermittlung über Vorentwurf, Genehmigungsplanung, Ausführungsplanung und Bauüberwachung bis zur Objektbetreuung. Ging etwas schief, wurden Termine oder Kostenplanungen nicht eingehalten, lag die Schuld beim Architekten, das war klar.
Bei Großprojekten der öffentlichen Hand werden die Verantwortlichkeiten heutzutage jedoch auf viele Schultern verteilt, und der Architekt muss sich damit zufriedengeben, dass seine Rolle auf die eines Rädchens im Getriebe des Baubetriebs reduziert wird. Wenn er Glück hat, darf er die Ausführungsplanung erstellen. Die Ausschreibung an die Firmen übernehmen andere, die Bauleitung wird speziellen Unternehmen übertragen, Kosten- und Terminkontrolle liegen in wieder anderen Händen. Dennoch bleibt er die Galionsfigur des Gebäudes, und wenn aus politischen Gründen Köpfe rollen sollen, wird nicht lange im Gestrüpp der Verantwortlichkeiten gestochert.
Die Verlagerung der Verantwortlichkeiten auf viele Schultern bedeutet zugleich die Multiplikation der Wünsche. Architektur hatte schon immer etwas mit Macht und Einfluss von Menschen auf andere Menschen, Gesellschaften und Dinge zu tun. Beides wird von Individuen, d.h. dem Auftraggeber, erträumt, gewünscht wie auch beauftragt. Diese unausgesprochenen Wünsche und Sehnsüchte muss der Architekt erahnen und umsetzen (oder es wenigstens versuchen). Er nimmt damit, wie andere Künstler oder Erfinder, das Risiko auf sich, an der Umwandlung einer Idee – also von etwas Immateriellem – in die Realität zu scheitern.
Scheitern oder Gelingen hängen entscheidend davon ab, wie weit Wunsch und Wirklichkeit des Auftraggebers auseinanderklaffen. Und je ausgefallener die Wünsche und je höher die Ansprüche, desto wichtiger ist es, Fehlern und Missverständnissen mit Hartnäckigkeit vorzubeugen. Denn wenn unsachgemäße Anforderungen gestellt, übertriebene Ausführungen erwirkt oder falsche Erwartungen geweckt und als Versprechen formuliert werden, ist das Desaster nicht weit. Kurzum, das Problem unseres Verhältnisses zur gebauten Materie der Architektur liegt in der Diskrepanz zwischen Realität und
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