Black Box
Augen die Farbe einer dicken Eisschicht hatten – ein milchiges Blau – und dass er mich während der ganzen fünf Minuten unserer Unterhaltung nicht ein einziges Mal ansah. Ich weiß auch noch, dass er Eddys Nachnamen falsch aussprach, er sagte immer Peers statt Prior. Beim ersten Mal habe ich ihn noch verbessert, aber dann ließ ich es bleiben. Während des ganzen Gesprächs befand ich mich in einem Zustand größter, geradezu schwindelerregender Anspannung; mein Gesicht fühlte sich an, als wäre es mit Novocain betäubt, und wenn ich sprach, schaffte ich es kaum, die Lippen zu bewegen. Ich war mir sicher, das Carnahan das bemerken und es sonderbar finden würde, doch das war nicht der Fall. Schließlich sagte er mir, ich solle die Finger von Drogen lassen, starrte auf einige Papiere, die vor ihm lagen, und schwieg endgültig. Fast eine Minute lang blieb ich ihm gegenüber sitzen, ohne zu wissen, was ich mit mir anfangen sollte. Dann blickte er hoch, überrascht, dass ich immer noch hier herumhing. Er scheuchte mich mit einer Handbewegung hinaus, sagte, ich solle gehen und den Nächsten bitten, hereinzukommen.
Als ich aufstand, fragte ich ihn: »Haben Sie denn eine Ahnung, was mit ihm geschehen sein könnte?«
»Darüber würde ich mir nicht allzu viele Gedanken machen. Der ältere Bruder von Mr. Peers ist vergangenen Sommer aus der Jugendstrafanstalt ausgebrochen und seither nicht mehr gesehen worden. Ich habe mir sagen lassen, dass die beiden sich sehr nahestanden.« Carnahan wandte sich wieder seinen Papieren zu, schob sie hin und her. »Vielleicht hat dein Freund ja auch beschlossen, sich auf eigene Faust davonzumachen. Er ist schon früher einige Male verschwunden. Du kennst doch das Sprichwort: Übung macht den Meister.«
Als ich hinausging, saß Mindy Ackers auf der Bank an der Wand des Vorzimmers. Sie sah mich, sprang schnell auf, lächelte und biss sich auf die Unterlippe. Mit ihren Spangen und ihrer unreinen Haut hatte Mindy nicht viele Freunde, und Eddys Abwesenheit machte ihr bestimmt zu schaffen. Ich wusste nicht viel über sie, aber ich wusste, dass sie sich sehnlichst gewünscht hatte, Eddy würde Gefallen an ihr finden, und sie hatte mit Begeisterung die Zielscheibe für seinen Spott abgegeben, wenn auch nur, um ihn lachen zu hören. Ich mochte und bemitleidete sie. Wir hatten eine Menge gemeinsam.
»Hallo, Nolan«, sagte sie und sah mich hoffnungsvoll, fast schon flehentlich an. »Was hat die Polizei gesagt? Gibt es eine Vermutung, wo Eddy abgeblieben sein könnte?«
In diesem Augenblick kochte Wut in mir hoch – nicht auf sie, sondern auf Eddy; bittere Verachtung für die Art und Weise, wie er sie ausgelacht und sich hinter ihrem Rücken über sie lustig gemacht hatte.
»Nein«, erwiderte ich. »Aber ich würde mir keine Sorgen um ihn machen. Glaub mir – wo auch immer er steckt, er macht sich keine Sorgen um dich.«
Sie blinzelte verletzt mit den Augen, und ich wandte mich rasch ab und ging weiter. Hätte ich doch nur die Klappe gehalten! Was spielte es schon für eine Rolle, ob sie ihn vermisste. Danach habe ich nie wieder ein Wort mit ihr gewechselt. Ich weiß nicht, was Mindy Ackers nach der Highschool widerfahren ist. Manche Leute kennt man für eine Weile, dann öffnet sich ein Loch unter ihnen, und sie fallen aus deiner Welt heraus.
Es gibt noch etwas anderes aus der Zeit unmittelbar nach Eddys Verschwinden, an das ich mich erinnere. Wie gesagt, ich habe versucht, möglichst nicht an das zu denken, was mit ihm passiert ist, und deshalb bin ich Gesprächen über ihn aus dem Weg gegangen. So schwer war das gar nicht. Diejenigen, die halbwegs Anteil nahmen, ließen mich meistens sowieso in Ruhe, weil sie wussten, dass mich ein guter Freund im Stich gelassen hatte, ohne ein Sterbenswörtchen zu sagen. Am Ende des Monats war es fast so, als wüsste ich selbst überhaupt nicht mehr, was mit Eddy Prior geschehen war – oder als hätte ich Eddy nie gekannt. Ich war bereits dabei, meine Erinnerungen an ihn hinter einer gedanklichen Mauer aus bedachtsam gelegten Ziegeln wegzusperren – die Fußgängerüberführung, das Damespielen mit Mindy, die Geschichten über seinen älteren Bruder Wayne. Mit dem Kopf war ich längst woanders. Ich suchte nach einem Job, überlegte mir, mich beim Supermarkt zu bewerben. Ich wollte mehr Taschengeld, ich wollte öfters abends ausgehen. AC/DC kamen im Juni in die Stadt, und ich wollte Eintrittskarten. Ziegel um Ziegel um Ziegel.
Dann, an
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