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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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mitzuteilen, dass er verschwunden sei. Der Polizeibeamte, der mir in Boston einen Besuch abstattete, um herauszufinden, ob ich ihnen irgendwie behilflich sein konnte, wusste zwar seinen richtigen Namen, doch seine Nachforschungen blieben ebenso erfolglos wie Mr. Carnahans Suche nach Edward Prior.
    Kurz nachdem er offiziell für vermisst erklärt worden war, rief mich Betty Millhauser an, die für Morris zuständige Pflegedienstleiterin, um mir zu sagen, dass sie seine Habseligkeiten irgendwo einlagern müssten, »bis er zurückkommt« – eine Redewendung, die sie in einem gewollt optimistischen Tonfall zum Besten gab, der mir peinlich war. Falls ich wolle, könne ich vorbeikommen und einige seiner Sachen mit nach Hause nehmen. Ich erwiderte, ich würde bei nächster Gelegenheit vorbeischauen. Wie sich herausstellte, war das bereits am darauffolgenden Samstag der Fall, genau dem Tag, an dem ich Morris auch besucht hätte, wenn er noch da gewesen wäre.
    Ein Pfleger ließ mich in Morris’ kleinem Zimmer im zweiten Stock allein. Weiß getünchte Wände mit einer dünnen Matratze auf einem Metallrahmen. Vier Paar Socken in der Kommode; vier paar Jogginghosen; zwei noch in Plastik eingeschweißte Boxershorts; eine Zahnbürste; Zeitschriften: Popular Mechanics, Reader’s Digest und eine Ausgabe der High Plains Literary Review, die einen Essay von mir über Edgar Allan Poes humoristische Gedichte veröffentlicht hatte. Im Schrank entdeckte ich einen blauen Blazer, den Morris mit Leuchtkerzen behängt hatte, als wäre er ein Weihnachtsbaum. Ein Stromkabel war in eine Tasche gesteckt. Er hatte ihn auf der jährlichen Weihnachtsfeier des Wellbrook getragen. Das war der einzige Gegenstand im ganzen Zimmer, der nicht völlig anonym war, die einzige Sache, die mich an ihn erinnerte. Ich stopfte den Blazer in einen Wäschesack.
    Dann sah ich in der Verwaltung vorbei, um mich bei Betty Millhauser dafür zu bedanken, dass sie mir gestattet hatte, in Morris’ Zimmer zu gehen, und um ihr zu sagen, dass ich jetzt aufbrechen würde. Sie fragte mich, ob ich auch einen Blick in seinen Spind unten in der Reinigungsabteilung geworfen hätte. Ich erwiderte, dass ich nicht einmal von der Existenz dieses Spinds gewusst hätte, und fragte, wo sich die Reinigungsabteilung denn befinde? Im Keller.
    Bei dem Keller handelte es sich um einen riesigen Raum mit hoher Decke, Betonboden und beigefarbenen Backsteinwänden. Starker, schwarz lackierter Maschendraht unterteilte die Fläche in zwei Teile. Auf einer Seite befand sich ein kleiner Bereich für die Reinigungskräfte. Eine Reihe Spinde, ein Klapptisch, Stühle. An der Wand summte ein Colaautomat vor sich hin. Den Rest des Kellers konnte ich nicht einsehen – auf der anderen Seite des Maschendrahts war das Licht ausgeschaltet –, aber irgendwo hörte ich einen Boiler leise keuchen, und Wasser rauschte durch Rohre. Das Geräusch erinnerte mich an das, was man hört, wenn man sich eine Muschel ans Ohr hält.
    Am unteren Ende der Treppe befand sich eine kleine Kabine. Durch die Fenster fiel mein Blick auf einen Schreibtisch, der mit Papieren übersät war. Ein stämmiger Schwarzer in grünem Overall saß dahinter und blätterte im Wall Street Journal. Als er mich vor den Spinden stehen sah, erhob er sich, kam herüber und reichte mir eine kräftige, von Schwielen bedeckte Hand. Er hieß George Prine und war der Chef der Reinigungsabteilung. Er deutete auf Morris’ Spind, blieb ein paar Schritte hinter mir stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah mir dabei zu, wie ich ihn durchging.
    »Mit Ihrem Jungen konnte man gut klarkommen«, sagte er, als wäre Morris mein Sohn gewesen und nicht mein Bruder. »Hin und wieder war er ein bisschen weggetreten, wie in einer eigenen Welt, aber das ist hier nicht weiter ungewöhnlich. Seine Arbeit hat er gut gemacht. Er hat seine Stechkarte nicht nur durchgezogen, um dann rumzusitzen und sich die Stiefel zu schnüren, wie das so einige andere tun. Wenn er zur Arbeit erschien, dann wollte er auch etwas tun.«
    Morris’ Spind war so gut wie leer. Overalls, Stiefel, ein Regenschirm, ein schmales, zerlesenes Taschenbuch mit dem Titel »Flachland«.
    »Nach Feierabend war er allerdings immer schlagartig wie verändert. Dann hing er stundenlang hier rum. Hat irgendwas aus seinen Kisten gebaut und sich so sehr in sich selbst zurückgezogen, dass er das Abendessen vergaß, wenn ich ihn nicht daran erinnerte.«
    »Was?«, sagte ich.
    Prine lächelte, ein

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