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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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weiter links, als möglich war. Er konnte in so kurzer Zeit doch nicht zwanzig Meter zurückgelegt haben?
    »Verdammte Sackgasse«, rief er, und ein Tunnel links von uns wackelte, als er hindurchkrabbelte.
    Dann wusste ich nicht mehr so genau, wo er sich befand. Fast eine ganze Minute verstrich, und ich bemerkte, dass sich meine Hände schweißnass zu Fäusten geballt hatten und ich den Atem anhielt.
    »Hey«, sagte Eddy von irgendwoher, und ich meinte, ein wenig Unsicherheit in seiner Stimme auszumachen. »Kriecht hier drin noch jemand anders rum?« Er war ein ganzes Stück von mir entfernt. Seine Stimme schien aus einer der Kisten in der Nähe des Mondes zu kommen.
    Dann rührte sich lange nichts. Inzwischen war die Musik einmal bis zum Ende durchgelaufen, und das Lied fing wieder von vorn an. Zum ersten Mal hörte ich aufmerksam zu. Der Text stimmte nicht mit dem überein, den ich vom Sommerlager her kannte. Einmal sang die gedämpfte Stimme:
     
    Die Ameisen marschieren, zwei und zwei, hurra! Hurra!
    Die Ameisen marschieren, zwei und zwei, hurra! Hurra!
    Die Ameisen marschieren zwei und zwei,
    Sie marschieren über das Leng-Plateau
    Munter in den Abgrund hinunter!
     
    In der Version, die ich kannte, wurde eine Ameise erwähnt, die stehen blieb, um sich einen Kieselstein aus dem Schuh zu holen. Außerdem machte es mich nervös, dass sich das Lied immer wiederholte.
    »Was ist denn mit der Kassette los?«, fragte ich Morris. »Warum läuft da immer dasselbe Lied?«
    »Keine Ahnung«, sagte er. »Die Musik hat irgendwann heute Morgen angefangen. Seither hat sie nicht mehr aufgehört. Sie läuft schon den ganzen Tag so.«
    Ich wandte mich um und starrte ihn an. Ein kalter Angsthauch fuhr mir durch die Brust. »Was meinst du damit – sie hat nicht aufgehört?«
    »Ich weiß nicht mal, woher sie kommt. Ich hab nichts damit zu tun.«
    »Gibt es denn keinen Kassettenrekorder?«
    Morris schüttelte den Kopf, und jetzt verspürte ich echte Angst. »Eddy!«, schrie ich.
    Keine Antwort.
    »Eddy!« Ich stürzte los, stolperte über Kisten, tapste um sie herum, immer auf den Mond zu, von wo ich Eddys Stimme das letzte Mal gehört hatte. »Eddy, antworte mir!«
    Aus unfassbar großer Entfernung hörte ich etwas, einen Satzfetzen: »… eine Brotkrümelspur …« Es klang nicht einmal wie Eddys Stimme – die Wörter wurden in einem abgehackten, hochnäsigen Tonfall gesprochen, fast klangen sie wie eine der übereinandergeschnittenen Stimmen in diesem Nonsenslied von den Beatles, Revolution #9. Ich konnte nicht ausmachen, woher sie kamen, ob von vor mir oder von hinter mir. Ich drehte mich in einem fort im Kreis, und als die Ameisen gerade in Neunerreihen marschierten, verstummte die Musik unvermittelt. Ich stieß einen überraschten Schrei aus und sah Morris an.
    Er hielt sein Teppichmesser in der Hand – mit den Klingen, die er, jede Wette, aus meiner Kommode stibitzt hatte –, kniete sich hin und schnitt das Klebeband, das die erste Kiste des Labyrinths mit der zweiten verband, durch.
    »Na, also. Der wäre jetzt weg!«, sagte er. »Alles erledigt.« Er zog den Eingang des Labyrinths zu sich heran, schnitt ein letztes Stück Band ab, faltete die Kiste ordentlich zusammen und legte sie beiseite.
    »Was redest du da?«
    Er sah mir nicht in die Augen. Systematisch nahm er alles auseinander, säbelte am Klebeband herum, faltete Kisten zusammen und stapelte sie neben der Treppe. »Ich wollte dir helfen«, fuhr er fort. »Du hast gesagt, dass er einfach nicht verschwinden will, also habe ich dafür gesorgt, dass er verschwindet.« Für einen Moment sah er hoch und starrte mich mit diesem Blick an, der immer durch einen hindurchzugehen schien. »Er musste einfach verschwinden. Sonst hätte er dich nie in Ruhe gelassen.«
    »Himmel!«, hauchte ich. »Ich wusste, dass du verrückt bist, aber ich hatte keine Ahnung, dass du völlig den Verstand verloren hast. Was soll das heißen – er ist verschwunden? Er ist da drin. Er muss da drin sein! In irgendeiner der Kisten. Eddy!« Als ich seinen Namen rief, klang meine Stimme leicht hysterisch. »Eddy!«
    Aber er war tatsächlich verschwunden – und ich wusste es. Ich wusste, dass er in Morris’ Kisten hineingekrochen war und durch sie hindurch an einen anderen Ort, der nicht in diesem Keller lag. Ich hastete zwischen den Kisten herum, sah durch Fenster, trat gegen Kartons. Ich nahm die Festung auseinander, riss das Klebeband mit den Händen ab, drehte Kisten um und schaute in sie

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